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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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    Dass ein Sportler durch einen tragischen Unfall seinen Geruchssinn verloren habe - so was hört man nie, wie auch? Damit das Universum schmerzhafte Lektionen erteilen kann, die uns im späteren Leben dann doch nicht weiterhelfen, muss der Sportler seine Beine verlieren, der Philosoph seinen Verstand, der Maler sein Augenlicht, der Musiker sein Gehör, der Koch seinen Geschmackssinn. Und welche Lektion mir erteilt worden ist? Ich habe meine Freiheit verloren und sitze nun in diesem komischen Gefängnis, und die größte Herausforderung - wenn man davon absieht, dass man sich daran gewöhnen muss, nie etwas in den Taschen zu haben oder behandelt zu werden wie ein Hund, der in einen heiligen Tempel gepisst hat - besteht darin, die Langeweile zu ertragen. Mit der einsatzfreudigen Brutalität der Wärter werde ich fertig, auch mit den vergeudeten Erektionen, sogar mit der erstickenden Hitze, die einem die Luft abschnürt - offenbar laufen Klimaanlagen unserem Gerechtigkeitsempfinden zuwider, als wäre ein bisschen frische Luft schon eine Art Begnadigung für einen Mord. Aber womit soll ich mir hier nur die Zeit vertreiben? Mich verlieben? Da gibt es eine Wärterin, deren gleichgültiges Glotzen durchaus einen verführerischen Reiz hat, aber ich war noch nie ein Frauenheld - für mich ist auch ein Nein eine Antwort. Den ganzen Tag schlafen? Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Fratze, die mich schon mein Leben lang verfolgt. Oder meditieren? Nach allem, was geschehen ist, weiß ich, dass der menschliche Geist nicht die Hirnhaut wert ist, die ihn hervorbringt. Es gibt hier keine Zerstreuungen, zumindest nicht genügend, um der ständig drohenden Nabelschau zu entgehen. Und die Erinnerungen kann ich mir ja schlecht mit einem Stock vom Leib halten.
    Bleibt nur eines: verrückt werden, was nicht weiter schwierig ist in einem Theater, an dem jede zweite Woche die Apokalypse auf dem Spielplan steht. Die Aufführung gestern Nacht war ein echtes Highlight: Ich war fast eingeschlafen, da begann plötzlich das Gebäude zu beben, und Hunderte wütende Stimmen schrien wie aus einer Kehle. Ich erstarrte. Ein Aufstand, schon wieder eine dieser schlecht vorbereiteten Revolten. Keine zwei Minuten später wurde meine Zellentür aufgetreten, und herein stürzte eine große Gestalt, deren Lächeln rein dekorativen Charakter hatte.
    »Deine Matratze. Brauch ich«, sagte der Mann.
    »Wozu?«, fragte ich.
    »Wir zünden alle Matratzen an«, verkündete er stolz, die Daumen nach oben gereckt, als sei diese Geste das Juwel in der Krone menschlichen Einfallsreichtums.
    »Und auf was soll ich schlafen? Auf dem Fußboden?«
    Er zuckte die Achseln und redete dann in einer Sprache auf mich ein, die ich nicht verstand. Sein Hals war voller Buckel und Beulen; unter seiner Haut ging offenbar Entsetzliches vor. Die Menschen hier sind alle Wracks, das Unglück, das an ihnen klebt, hat sie entstellt. Bei mir ist es genauso: Mein Gesicht sieht aus wie eine verschrumpelte Weintraube, mein Körper wie ein knorriger Rebstock.
    Ich verscheuchte den Häftling mit einer lässigen Handbewegung und horchte erneut auf das Wüten des Mobs. Und genau in dem Moment kam mir eine Idee: Ich könnte mir die Zeit damit vertreiben, meine Geschichte aufzuschreiben. Natürlich im Geheimen, hinter verschlossener Zellentür, immer nur nachts, und die Papiere würde ich dann in dem modrigen Spalt zwischen Toilette und Zellenwand verstecken, in der Hoffnung, dass meine Schließer nicht zu den Typen gehören, die auf allen vieren durch die Zelle kriechen. Gerade als ich mich mit der Idee angefreundet hatte, fiel wegen des Aufruhrs das Licht aus. Ich saß auf meinem Bett und ließ mich verzaubern vom Feuerschein, der von den brennenden Matratzen im Flur zu mir hereinleuchtete, wurde dabei aber sofort von zwei grimmigen, unrasierten Mitgefangenen gestört, die mit großen Schritten in meine Zelle stapften und mich anstarrten, als sei ich ein Bergpanorama.
    »Du bist der, der seine Matratze nicht rausrücken will, oder?«, knurrte der Größere von beiden, der aussah, als sei er seit drei Jahren jeden Morgen mit demselben Kater aufgewacht.
    Ich sagte, der sei ich.
    »Los, zur Seite.«
    »Wollte mich aber gerade hinlegen«, protestierte ich. Von beiden kam ein kehliges, beunruhigendes Lachen, das klang wie zerreißender Jeansstoff. Der Größere stieß mich weg und zerrte die Matratze von meinem Bett, während der andere dastand, als sei er tiefgefroren und warte auf Tauwetter.
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