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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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Zeit, dass du erfährst, womit deine Großeltern sich das Leben versaut haben, damit du dir überlegen kannst, was du aus den Fehlern deiner Vorfahren lernst: Willst du die gleichen machen oder dich vom Rückstoß ihrer Fehler in einen feindlichen Orbit katapultieren lassen, wo du deine eigenen katastrophalen Fehler begehen kannst? Wir alle schleppen uns kraftlos von den Gräbern unserer Großeltern hinweg, den Nachhall ihres traurigen Sterbens noch im Ohr, im Mund den schalen Nachgeschmack ihres schändlichsten Verbrechens an sich selbst: die Schmach ihres ungelebten Lebens. Nur das stetige Ansammeln von Kummer und Misslingen, hinzuaddiert zu unserer Schande und unserem ungelebten Leben, macht es uns möglich, ihr Leben zu begreifen. Aber sollten wir durch eine Laune des Schicksals ein behütetes Leben führen und beschwingt von einem trefflichen Erfolg zum nächsten eilen, werden wir sie nie verstehen! Niemals!«
    Dad öffnete seinen Schuhkarton. »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst«, sagte er und nahm einen Stapel loser Fotos heraus. »Das hier ist dein Großvater«, fuhr er fort und hielt die Schwarz-Weiß-Aufnahme eines bärtigen jungen Mannes hoch, der an einer Straßenlaterne lehnte. Der Mann lächelte nicht; es sah aus, als lehnte er an der Laterne, weil er Angst hatte, sonst umzufallen.
    Dann zog Dad das Foto einer jungen Frau mit einem reizlosen ovalen Gesicht und mattem Lächeln hervor. »Das ist deine Großmutter«, erklärte er, bevor er so hastig die Fotos durchkämmte, als stünde einer mit der Stoppuhr daneben. Das wenige, das ich von der monochromen Vergangenheit zu sehen bekam, war verwirrend. Sie machten auf jedem Foto das gleiche Gesicht: Das meines Großvaters hatte stets einen gequälten Ausdruck, das Lächeln meiner Großmutter wirkte deprimierender als die betrübteste Leichenbittermiene.
    Dad suchte ein weiteres Foto heraus. »Das ist Vater Nummer zwei. Mein richtiger Vater. Die Leute denken immer, der biologische Vater sei >richtiger< als der, bei dem man aufwächst, aber man wird schließlich nicht von einem zeugungsfähigen Tropfen Samen aufgezogen, oder?«
    Er hielt mir die Fotografie unter die Nase. Ich weiß nicht, ob Gesichter Gegenpole darstellen können, aber im Gegensatz zum ernsten Gesicht des ersten Großvaters grinste dieses, als sei Vater zwei nicht nur am glücklichsten Tag seines Lebens fotografiert worden, sondern am glücklichsten Tag aller Zeiten. Er trug einen mit weißer Farbe bespritzten Overall, hatte eine wilde blonde Mähne und war schweißüberströmt.
    »Ehrlich gesagt, schaue ich mir diese Fotos nicht sehr oft an, denn wenn ich die Bilder Verstorbener betrachte, sehe ich nur, dass sie tot sind. Ob Napoleon oder meine eigene Mutter, es sind einfach Tote.«
     
    An diesem Tag erfuhr ich, dass meine Großmutter ausgerechnet in jener unglückseligen Zeit in Polen zur Welt gekommen war, als Hitler seine größenwahnsinnigen Ideen zunichtegemacht hatte, indem er sie wahr werden ließ - er entpuppte sich als großer Führer mit einem Händchen fürs Marketing. Als die Deutschen vorrückten, flohen die Eltern meiner Großmutter aus Warschau und schleppten das Mädchen durch ganz Osteuropa, bis sie nach mehreren qualvollen Monaten China erreichten. Dort wuchs meine Großmutter auf - im Ghetto von Shanghai, während des Krieges. Sie lernte Polnisch, Jiddisch und Mandarin und überstand die Tropenkrankheiten der feuchten Monsunmonate, drastische Lebensmittelrationierungen und amerikanische Luftangriffe.
    Nachdem mit den amerikanischen Truppen auch die Nachricht vom Holocaust nach Shanghai gelangt war, zog es viele aus der jüdischen Gemeinde von China aus in alle möglichen Winkel, doch meine Urgroßeltern beschlossen zu bleiben. Immerhin hatten sie es zu einer mehrsprachigen Kleinkunstbühne und einem koscheren Metzgerladen gebracht. Das war meiner jungen Großmutter nur recht, denn sie war bereits in meinen Großvater verliebt, der Schauspieler am Theater der Familie war. 1956, gerade siebzehn, wurde meine Großmutter schwanger, was ihre Eltern und die des Bräutigams zu hastigen Hochzeitsvorbereitungen zwang, wie es in der Alten Welt Usus war, wenn man nicht wollte, dass die Leute anfingen, nachzurechnen. Eine Woche nach der Trauung beschloss die Familie, zurück nach Polen zu gehen, um das Kind, das sie erwarteten, der Zellhaufen, der einmal mein Vater werden würde, in ihrem Heimatland großzuziehen.
    Sie wurden nicht gerade mit offenen Armen empfangen, um es
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