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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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sollte mithelfen, es aufzubauen. Weil bald ein Gefängnis düster am Ortsrand aufragen würde, verlieh eine Zeitung aus Sydney dieser Ansiedlung (in der mein Vater aufwachsen sollte) das Prädikat »Unattraktivster Wohnort in ganz New South Wales«.
    Als meine Großeltern erstmals die abschüssige Straße hinunterfuhren, die in den Ort führte, erblickten sie oben auf einem Hügel die Grundmauern der Strafanstalt. Umgeben von mächtigen, stummen Bäumen gelegen, wirkte das Gefängnis auf meine Großmutter eher halb verfallen als halb fertig, und das empfand sie als böses Omen. Was es wohl auch war, wenn man bedenkt, dass mein Großvater dort hingezogen war, um ein Gefängnis zu bauen, und ich nun in einem sitze und schreibe. Wahrlich, die Vergangenheit ist ein inoperabler Tumor, dessen Metastasen bis in die Gegenwart reichen.
    Sie zogen in ein schuhkartonförmiges, wetterfest verschaltes Haus, und am nächsten Tag, während meine Großmutter den Ort erkundete und dessen Einwohner unabsichtlich mit ihrem Nimbus als Überlebende einschüchterte, trat mein Großvater seine neue Stelle an. Ich weiß nicht genau, worin seine Aufgabe bestand, doch in den folgenden Monaten sprach er offenbar unablässig von verriegelten Türen, kalten Fluren, Zellenabmessungen und vergitterten Fenstern. Als sich das Gebäude der Fertigstellung näherte, begann er, sich fanatisch mit allem zu befassen, was mit Gefängnissen zu tun hatte; er lieh sich in der neu gegründeten Stadtbücherei sogar Bücher über ihre Bauweise und Geschichte aus. Meine Großmutter investierte in derselben Zeit ebenso viel Energie ins Erlernen der englischen Sprache, woraus eine neue Katastrophe erwuchs. Ihre Englischkenntnisse verbesserten sich, und sie begann, ihren Ehemann zu verstehen.
    Seine Witze erwiesen sich als dumm und rassistisch. Überdies waren einige, wie sich herausstellte, gar keine Witze, sondern langatmige, geistlose Monologe, die mein Großvater mit Worten schloss wie: »Und dann sagte ich: Ach, ja?« Ihr wurde klar, dass er unentwegt mit seinem Los haderte, und wenn er nicht gerade gemein und zotig war, war er nur banal, wenn er nicht paranoid war, war er ein Langweiler. Bald machte sein Gerede sein einnehmendes Gesicht hässlich; sein Gesichtsausdruck bekam etwas Grausames; sein halb offen stehender Mund wurde zum Zeichen seiner Dummheit. Und mit jedem Tag wurde es schlimmer, weil sich eine neue Sprachbarriere zwischen ihnen auftat - die unüberwindbare Hürde einer gemeinsamen Sprache.
     
    Dad legte die Fotos mit finsterem Blick zurück in die Schachtel, als habe er eine Reise in die Vergangenheit unternehmen wollen, dort angekommen aber festgestellt, dass es ihm überall besser gefiel.
    »Okay, so viel zu deinen Großeltern. Über Großeltern musst du nur eines wissen, nämlich, dass sie auch einmal jung waren. Du musst wissen, dass es nie ihre Absicht war, nur noch den Verfall zu verkörpern, oder dass sie besonderen Wert darauflegten, bis zum Ende ihrer Tage auf ihren Ideen zu beharren. Du musst wissen, dass sie nicht wollten, dass ihnen die Tage ausgehen. Du musst wissen, dass sie tot sind und dass die Toten schlecht träumen. Sie träumen von uns.«
    Er starrte mich eine Zeit lang an und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Heute weiß ich natürlich, dass alles, was er mir erzählte, nur eine Einleitung war. Damals kapierte ich nicht, dass Dad sich nach einem guten, befreienden Monolog nichts sehnlicher wünschte, als dass ich ihn zu einem weiteren anstacheln würde. Ich zeigte lediglich auf die Schaukel und bat ihn, mich anzustoßen.
    »Weißt du, was?«, sagte er. »Vielleicht schmeiß ich dich für eine nächste Runde in den Ring.«
    Er schickte mich in die Schule zurück. Vielleicht wusste er, dass ich dort die Fortsetzung der Geschichte erfahren und so unweigerlich auf eine weitere entscheidende Zutat meiner unverwechselbaren Identitätssuppe stoßen würde.
     
    Nach einem Monat in meiner neuen Schule hatte ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, wieder unter Kindern zu sein, und musste einsehen, dass ich wohl nie begreifen würde, warum mein Dad an einem Tag von mir wollte, dass ich diese Leute verachtete, und dann am nächsten, dass ich mich mit ihnen arrangierte.
    Bisher hatte ich erst einen Freund gefunden, versuchte aber, noch ein paar zusammenzubekommen, denn zum Überleben braucht man mindestens zwei - für den Fall, dass einer krank wird. Eines Tages stand ich in der Mittagspause hinter dem Speisesaal und sah zu, wie
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