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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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höflich auszudrücken. Wer weiß, ob es das schlechte Gewissen war, die Angst vor den Forderungen nach Wiedergutmachung oder bloß die unangenehme Überraschung, wenn jemand klingelt und sagt: »Sie wohnen in meinem Haus«, jedenfalls musste meine Großmutter mit ansehen, wie ihre Eltern, keine zehn Minuten nach ihrer Ankunft, mit einem Eisenrohr totgeprügelt wurden. Meine Großmutter lief auf und davon, aber ihr Mann blieb zurück und wurde erschossen, weil er über den Leibern der Erschlagenen auf Hebräisch gebetet hatte. Und dabei hatte er noch nicht einmal »Amen« gesagt, die Botschaft war also noch gar nicht abgeschickt worden (»Amen« ist so was wie »Senden« bei einer E-Mail).
    Unversehens Witwe und Vollwaise geworden, floh meine Großmutter ein zweites Mal aus Polen, diesmal auf einem Schiff in Richtung Australien. Nachdem sie zwei Monate lang auf den einschüchternden Horizont gestarrt hatte, setzten genau in dem Moment bei ihr die Wehen ein, als jemand ausrief: »Ich kann's schon sehen!« Alle rannten zur einen Seite des Schiffes und lehnten sich über die Reling. Steile Klippen, gekrönt von Gruppen grüner Bäume, säumten die Küste. Australien! Die jüngeren Passagiere johlten vor Freude. Die älteren Passagiere wussten, dass der Schlüssel zum Glück ist, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen. Sie buhten.
     
    »So weit alles mitbekommen?«, unterbrach sich mein Vater. »Aus diesen Bausteinen besteht deine Identität. Polnisch. Jüdisch. Drangsaliert. Vertrieben. Das sind nur einige Gemüsesorten, aus denen man die Jasper-Suppe macht. Hast du das kapiert?« Ich nickte. Ich hatte es kapiert. Dad fuhr fort.
     
    Obwohl sie noch immer kaum ein Wort Englisch sprach, ließ sich meine Großmutter schon sechs Monate später mit meinem Großvater Nummer zwei ein. Ob man stolz darauf sein oder sich lieber dafür schämen sollte, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls war er einer, der seinen Familienstammbaum bis zu der letzten Schiffsladung Strafgefangener aus England zurückverfolgen konnte, die man auf australischem Boden entsorgt hatte. Es stimmt zwar, dass einige dieser Kriminellen wegen Bagatelldelikten wie etwa dem Diebstahl eines Laib Brots verknackt worden waren, doch zu denen gehörte der Vorfahr meines Vaters nicht - na ja, vielleicht doch, aber er hatte auch drei Frauen vergewaltigt, und ob er nach den Vergewaltigungen auf dem Heimweg noch Brot geklaut hatte, ist nicht überliefert.
    Das Liebeswerben war kurz und schmerzlos. Offensichtlich nicht dadurch abgeschreckt, Vater eines Kindes zu werden, das nicht von ihm war, bat er, bewaffnet mit einem Polnisch-Wörterbuch und einer Grammatik der englischen Sprache, schon nach einem Monat meine Großmutter um ihre Hand. »Ich bin bloß einer, der sich hochgeboxt hat, und das bedeutet: >Wir gegen den Rest der Welt.< Wahrscheinlich wird die Welt jedes Spiel gegen uns mit links gewinnen, aber wir werden uns nie geschlagen geben, komme, was wolle. Was hältst du davon?« Sie schwieg. »Na, komm. Sag einfach: >Ich will<«, bettelte er. »Das kommt von dem Verb >wollen<. Mehr brauchst du erst mal nicht zu wissen. Später kommen wir zum >wollte<.«
    Meine Großmutter überdachte ihre Lage. Sie kannte niemanden, der sich um ihr Baby kümmern konnte, wenn sie zur Arbeit musste, und sie wollte nicht, dass ihr Kind vaterlos und in Armut aufwuchs. Sie fragte sich: Habe ich die erforderliche Skrupellosigkeit, zum Wohle meines Kindes einen Mann zu heiraten, den ich nicht wirklich liebe? Will ich das? Ja, ich will. Dann schaute sie in sein unseliges Gesicht und dachte: Ich könnte es schlechter treffen - eine dem Anschein nach gutartige Redewendung, dabei im Grunde eine der abschreckendsten überhaupt.
    Er war arbeitslos, als sie heirateten, und als meine Großmutter in seine Wohnung zog, musste sie mit Entsetzen feststellen, dass sie dort ein furchteinflößendes Potpourri aus Macho-Spielzeug erwartete: Gewehre, Replika-Pistolen, Modellkriegsflugzeuge, Gewichte und Hanteln. Wenn er in sein Muskeltraining, seine Kung-Fu-Übungen oder das Reinigen seiner Waffen vertieft war, pfiff er vergnügt vor sich hin. In den grauen Momenten, in denen ihn die Verzweiflung über seine Arbeitslosigkeit überkam und sich Zorn und Verbitterung in ihm breitmachten, pfiff er finster vor sich hin.
    Dann fand er vier Stunden entfernt Arbeit bei den New South Wales Prison Services in der Nähe einer gerade erst entstehenden Stadt. Er sollte nicht im Gefängnis arbeiten - er
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