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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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entscheiden, ob ich meinen Vater nun bedauern, ignorieren, verehren, verurteilen oder gar umbringen sollte. Tatsächlich blieb mir sein Verhalten bis zum Schluss unerklärlich. Er hatte widersprüchliche Vorstellungen von praktisch allem und jedem, besonders, was meine Ausbildung anging: Ich war gerade mal acht Monate im Kindergarten, da entschied er, dass ich nicht mehr hingehen sollte, weil das Erziehungssystem »verdummend, geisttötend, archaisch und profan« sei. Ich verstehe nicht, wie jemand das Malen mit Fingerfarben archaisch und profan nennen kann. Eine Schweinerei, das ja. Geisttötend, nein. Er nahm mich aus der Gruppe und wollte mich zu Hause selbst unterrichten. Statt mich mit Fingerfarben malen zu lassen, las er mir die Briefe vor, die Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo geschrieben hatte, kurz bevor er sich das Ohr abschnitt, dazu Passagen aus dem Buch Menschliches, Allzumenschliches, damit wir gemeinsam »Nietzsche vor den Nazis retten« konnten. Dann ließ sich Dad von der zeitaufwendigen Beschäftigung, ins Leere zu starren, ablenken, und ich saß im Haus herum und drehte die Däumchen, mit denen ich lieber in Fingerfarben gematscht hätte. Nach sechs Wochen lieferte er mich wieder im Kindergarten ab. Gerade als es so aussah, als wäre es mir doch noch vergönnt, ein normales Leben zu führen, da marschierte er, keine zwei Wochen nach Beginn meines ersten Schuljahrs, ins Klassenzimmer und riss mich erneut aus allem heraus, weil ihn die Furcht überkommen hatte, mein empfängliches Hirn könne sich »in den Falten von Satans Unterhose« verlieren.
    Diesmal meinte er es ernst. Die Zigarettenasche auf einen Berg ungespülten Geschirrs schnippend, unterrichtete er mich an unserem wackeligen Küchentisch in Literatur, Philosophie, Geografie, Geschichte und einem namenlosen Fach, das darin bestand, dass er die Tageszeitungen durchging und mich anbelferte, die Medien würden eine - wie er es nannte - »moralische Hysterie schüren«, und von mir verlangte, ihm zu erklären, warum die Leute sich so bereitwillig in moralische Hysterie versetzen ließen. Manchmal unterrichtete er von seinem Schlafzimmer aus, umgeben von Hunderten von Büchern aus dem Ramschantiquariat, Bildern von ernst dreinschauenden toten Dichtern, leeren Bierflaschen, Zeitungsausschnitten, alten Landkarten, schwarzen, vertrockneten Bananenschalen, Kisten mit noch ungerauchten Zigarren und Aschenbechern voller gerauchter.
    So lief eine typische Unterrichtsstunde ab:
    »Okay, Jasper. Also: Die Welt fällt nicht länger heimlich, still und leise auseinander, sondern mit lautem Getöse! In jeder Stadt der Welt zieht der Geruch von Hamburgern schamlos durch die Straßen und sucht nach alten Freunden! In den herkömmlichen Märchen war die böse Hexe hässlich, in modernen hat sie hohe Wangenknochen und Silikonimplantate! Die Menschen sind nicht mehr geheimnisvoll, weil sie nie die Klappe halten! Der Glaube ist in etwa so erhellend wie eine Augenbinde! Hörst du mir zu, Jasper? Es kann vorkommen, dass du spätabends durch die Stadt gehst, und eine Frau, die vor dir hergeht, dreht sich um und wechselt dann die Straßenseite, nur weil einige deiner Geschlechtsgenossen Frauen vergewaltigen und Kinder schänden!«
    Ein Fach war so verwirrend wie das andere, und jedes deckte ein breites Spektrum an Themen ab. Er versuchte, mich in somatische Dialoge zu verwickeln, übernahm aber letzten Endes immer beide Parts. Wenn es während eines Gewitters einen Stromausfall gab, zündete Dad eine Kerze an und hielt sie sich unters Kinn, um mir zu zeigen, wie das menschliche Antlitz bei entsprechender Beleuchtung zu einer Fratze des Bösen wird. Sollte ich mich je mit jemandem verabreden müssen, hämmerte er mir ein, dann sollte ich unbedingt aus der »dummen menschlichen Gewohnheit« ausscheren, mich auf eine Uhrzeit im Viertelstundenrhythmus festzulegen. »Triff Leute nie um 7 Uhr 45 oder 6 Uhr 30, Jasper, schlag Zeiten vor wie 7 Uhr 12 oder 8 Uhr 03!« Wenn das Telefon klingelte, nahm er ab und schwieg, sagte der Anrufer dann Hallo, antwortete er mit piepsiger Kinderstimme: »Dad nicht zu Hause.« Schon als Kind war mir klar, dass ein erwachsener Mann, der sich vor der Welt versteckt, indem er sich für seinen eigenen sechsjährigen Sohn ausgibt, wunderlich ist; doch viele Jahre später ertappte ich mich dabei, es genauso zu machen, nur dass ich so tat, als wäre ich er. »Mein Sohn ist nicht da. Worum handelt es sich denn?«, dröhnte ich dann. Und Dad
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