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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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P ROLOG
      
    Weimar, im Dezember 1812
      
    W arum?«, fragte die Dienstmagd Dorothea, als der Kaiser auf ihre Schwelle trat, denn sie wusste nicht, dass er der Kaiser war, und hätte sie es gewusst – nun, er war Franzose. Davon gab es zu jener Zeit in Weimar viele, und sie mochte keinen einzigen von ihnen, ganz gleich ob Bettler oder Söldner oder Kaiser oder Gott (denn hieß es nicht: »Essen wie Gott in Frankreich« oder »Gott isst in Frankreich« oder »Gott ist in Frankreich«?).
    Die Frage schien ihr angemessen, denn es war tiefste Winternacht. Tief waren Dunkelheit und Schnee und sicher auch der Schlaf des Herrn, den der Besuch zu sprechen wünschte. Der Herr Geheimrat brauchte Ruhe, er war nicht mehr der Jüngste. Die Uhr hatte längst Mitternacht geschlagen, als er die letzte Kerze löschte; und nun ging es schon bald auf vier am Morgen, wohlgemerkt.
    Der kleine Gast – er reichte kaum zu Dorotheens Schulter – bedachte sie mit einem Wortschwall. Die Kälte in seinem Blick übertraf dabei selbst jene, die vom Frauenplan herein ihr Nachtgewand durchwehte. Der Schnee lag kniehoch und würde noch viel höher steigen, wenn der Flocken dichter Fall so anhielt wie bisher.
     Schnee lag auf der Mütze des Franzosen, Schnee lag auf seinen Schultern und auf dem schlichten Pferdeschlitten, der draußen vor dem Haus hielt. Der Schlittenlenker saß in Felle gehüllt auf seinem Bock, die Zügel der schnaubenden Pferde locker in der Hand. Ob in der Kabine des Schlittens weitere Fahrgäste saßen, vermochte Dorothea nicht zu erkennen. Der Vorhang des Einstiegs war zugezogen. Wohl fiel durch Ritzen sanftes Licht, ein gelbes, zartes Lampenflackern.
    Sie dachte nicht daran, den Fremden einzulassen. Er hatte sich nicht vorgestellt, machte auch keine Anstalten, dergleichen nachzuholen. Als kennte sie jeden Franzosen auf der Welt! Sollte der dreiste Zwerg doch im Kalten stehen, bis ihm die Ohren klirrten!
    Da sprach die Stimme des Herrn in ihrem Rücken: »Den Gruß des Unbekannten ehre, Dorothea. Der erste Gruß ist viele tausend wert, drum grüße freundlich jeden, der begrüßt.« Ein humoriger Klang schwang in seinen Worten, wie oft, wenn er sich selbst zitierte.
    Goethes Hände ergriffen sie von hinten an den Schultern und schoben sie beiseite. Verwirrt, wenngleich mit Reden solcher Art nur allzu vertraut, machte Dorothea Platz und musterte verwundert ihren Herrn. Er trug nur ein Nachthemd, hielt seine Schlafmütze in der linken, einen Kerzenleuchter in der rechten Hand. Er hatte den nächtlichen Gast wohl längst erkannt, denn nun drückte er Mütze und Kandelaber in Dorotheas Hände, ergriff die behandschuhte Rechte des Kleinen und schüttelte sie aufs Herzlichste. »Tretet ein«, bat er.
    Dies tat der Gast und strafte Dorothea mit Missachtung. Ihr sollte es recht sein. Der Flegel war ihr längst zuwider. Wollte wohl durch schlechtes Benehmen wichtig tun, der Gnom.
     Der Herr bat den Franzosen, ihm hinauf ins Haus zu folgen. Dorothea ging in gehörigem Abstand hinterher. Nicht einmal den Schnee hatte der Fremde von seinen Stiefeln geklopft. Bei jedem Schritt hinterließ er eine Pfütze, selbst der Salve-Schriftzug am oberen Treppenabsatz grüßte alsbald durch Wasser und Eis.
    Die beiden schlugen den Weg zum Arbeitszimmer ein. Nur einmal blieb Goethe stehen, wandte sich zu Dorothea um und gestattete ihr, wieder zu Bett zu gehen. Sie fragte noch, ob er den Dienst des Kammerdieners nötig habe; der Herr aber gedachte keineswegs, sich anzukleiden. Der Besuch musste wahrlich wichtig sein, wenn er ihn gar die Regeln des Anstands vergessen ließ. Nun, es war nicht ihr Besuch. Nicht ihre Sorge.
    Sie machte sich auf zu ihrer Kammer, doch wie so oft ließ ihr die Neugier keine Ruhe. Sie schlich zurück, so leise sie konnte, presste ihr Ohr an die Tür des Arbeitszimmers. Zu ihrer Enttäuschung unterhielten sich die beiden Männer in der Sprache des Besuchers. Nur Bruchstücke waren es, die Dorothea verstehen konnte.
    Es ging wohl um ein Kind, gerade erst geboren, irgendwo im Badischen. Das Leben des Kleinen schien bedroht, von fremden Mächten war die Rede, von – Gott bewahre! – Götzendienern. Der Besucher musste der Großvater des Kindes sein, und ihm schien viel an seinem Spross zu liegen. So war es wohl solch zarte Zuneigung, die ihn bewog, Ungeheueres zu verlangen. Dorothea traute ihren Ohren kaum und war geneigt, das Gehörte auf ihr mangelndes Französisch zu schieben – bat doch der kleine Mann den großen
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