Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
ohne Unbehagen, wie ich gestehen muss, und näherten uns der Theke, wo der Postillion beim Essen saß. Außer ihm und den Holzfällern gab es zwei weitere Gäste, wohl die Reisenden aus der zweiten Kutsche, die an einem Ecktisch saßen und Eintopf in die Schatten ihrer hochgeschlagenen Kapuzen löffelten. Ihre Gesichter lagen völlig im Dunkeln.
    Der Postillion trug einen Mantel mit Fellbesatz, ganz ähnlich wie Jakob und ich. Sein zackiges Vogelgesicht musterte uns misstrauisch, als wir an seine Seite traten und ihn grüßten.
    »Wohl bekomm’s«, sagte ich mit Blick auf den zähen Zwiebeleintopf in seiner Schale, der einzigen Speise, die der Wirt seinen Gästen anbot. Auch die Holzfäller hatten einen großen Topf davon auf einem ihrer Tische stehen. Einer kippte gerade sein Bier hinein. Seine Kameraden begrüßten es mit lautem Gejohle und rangen miteinander um Nachschlag.
    Der Postkutscher brummte etwas und warf einen Blick auf das halbe Dutzend Postsäcke, die er neben sich an die Theke gelehnt hatte. Offenbar fürchtete er, Jakob könne sich daran zu schaffen machen, während ich ihn ablenkte.
    Nun, wir wollten nur mit ihm nach Süden fahren, nicht seine Freunde werden. Ich beeilte mich, unser Anliegen vorzubringen, und nachdem wir einen viel zu hohen Preis geboten hatten, erklärte er sich bereit, uns mitzunehmen.
    »Aber die Kutsche ist bis obenhin voll mit Gütern«, sagte er und deutete auf die Säcke, »eigentlich ist kein Personentransport vorgesehen. Ihr werdet euch dünn machen müssen.« Er duzte uns. Wahrscheinlich hielt er uns für Gesellen auf der Wanderschaft, oder auch für Studenten, die nach Heidelberg reisten, denn eben das war sein Ziel.
    Wir selbst jedoch wollten nach Karlsruhe. Heidelberg lag fast auf dem Weg dorthin, und so war ich insgeheim erleichtert. Nach außen hin freilich zeigte ich dies nicht; zweifellos hätte er gleich den Preis noch mehr in die Höhe getrieben.
    »In einer Stunde will ich weiter«, erklärte er. »Zahlen müsst ihr aber gleich.«
    Widerwillig gab Jakob ihm den vereinbarten Betrag, worauf die Münzen in seiner speckigen Uniform verschwanden. Wir selbst wollten die Zeit bis zur Abfahrt nutzen und etwas Warmes zu uns nehmen – selbst wenn es Zwiebeleintopf sein musste. Ich hatte Hunger, und mir war kalt, umso mehr, als wir geraume Zeit versucht hatten, gemeinsam mit unserem Kutscher unser Gefährt aus dem Graben zu heben, in den es bei dem Unglück gekippt war. Ein Wunder, dass weder Mensch noch Tier dabei zu Schaden gekommen waren. Der Kutscher war auch jetzt noch draußen und versuchte, den Wagen zu bergen. Wir waren vorausgegangen, sah doch selbst ein Kind, wie aussichtslos das Unterfangen war. Er aber wollte erst aufgeben, wenn die Dämmerung anbrach. Dann würden wir schon auf dem Weg nach Heidelberg sein. Das hatte er nun von seiner Halsstarrigkeit.
    Jakob und ich setzten uns an einen Tisch unweit des offenen Kamins. Die Wärme knisterte wohlig auf der Haut, und selbst der Eintopf schmeckte trotz ungesunder Färbung nicht übel.
    Ich hatte Goethes Empfehlungsschreiben vor mir auf den Tisch gelegt, damit es im Mantel nicht knitterte. Er hatte mir im beiliegenden Brief aufgetragen, es am Hofe zu Karlsruhe dem badischen Außenminister, einem gewissen Herzog von Dalberg, auszuhändigen. Jener hatte, so schrieb Goethe, eine Stellung anzubieten, die mir sicherlich behagen würde. Alles, was er mir darüber sagen konnte, war, dass man einen Privatlehrer suchte, überaus verlässlich und schweigsam, wie unser väterlicher Freund betonte. Zwar war das fern von meinen wahren Interessen, doch seit Ausbruch meiner Krankheit konnte ich nicht wählerisch sein.
    Tatsächlich war ich mehr als dankbar. Endlich erhielt auch ich Gelegenheit, zum Auskommen der Grimm’schen Familie beizutragen. Bislang hatte Jakob dies allein vollbracht, denn seine Arbeit als Verwalter der Königlichen Bibliothek im Kasseler Schloss brachte ihm immerhin regelmäßig tausend Taler. Davon ernährte er sich und uns Geschwister.
    Mir selbst hatte mein Herzleiden bislang jede geregelte Arbeit verlitten, obgleich mein Zustand sich seit einer Kur, für die gleichfalls der arme Jakob aufgekommen war, auf dem Wege zum Bessren befand. Sicher vermag man sich vorzustellen, dass mich solche Abhängigkeit zutiefst beschämte. Allein daher schon war eine Stellung gelehrter Art, wie Goethe sie in Aussicht stellte, ein ganz besonderer Glücksfall.
    Erst wenige Tage zuvor, im Dezember 1812, war der erste Band
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher