Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
ein, mit offenem Mund und ohne den Blick vom dürren Leib des Alten zu nehmen. Niemand sagte ein Wort.
    Dann, nach einem Augenblick des Atemholens, begann einer der Betrunkenen zu klatschen. Andere fielen mit ein, als wären sie gerade Zeugen einer gelungenen Jahrmarktgaukelei geworden.
    Jakob, ich selbst und die Dame im Kapuzenmantel, wir enthielten uns des Beifalls. Auch der Wirt und der Postkutscher hatten Besseres zu tun. Der Alte nahm derweil seinen Überwurf auf und verhüllte seine Blößen, als sei nichts geschehen. Den Beifall der Holzfäller schien er gar nicht wahrzunehmen.
    »Wer sind Sie?«, wandte ich mich an die Frau im Schatten.
    Sie hob den Kopf, offenbar ebenso erstaunt über die Darbietung ihres Begleiters – obgleich sie weniger seine Fähigkeiten zu überraschen schienen als vielmehr die Tatsache, dass er sie uns allen offenbart hatte. »Kommen Sie«, sagte sie nur und wandte sich dem Ausgang zu.
    Jakob und ich wechselten einen Blick, nahmen dann unsere Taschen auf und folgten ihr zögernd. Hier drinnen bekam man kaum mehr Luft vor lauter Rauch, und auch die Betrunkenen strömten ins Freie. Ich brannte darauf, endlich das Gesicht der Frau zu sehen. Ihre Stimme klang ungewöhnlich jung und zart und – Jakob gab mir einen Knuff in die Seite. »Gib Acht, Wilhelm, ich traue ihr nicht.«
    »Du traust niemandem«, gab ich flüsternd zurück.
    »Manches Mal mit gutem Grund, werter Wilhelm. Falls du dich erinnerst …«
    Werter Wilhelm – das sagte er stets, wenn er mich aufziehen wollte. Ich schnitt eine griesgrämige Grimasse. »Natürlich, großer Bruder.« Ich war sechsundzwanzig Jahre jung, Jakob nur ein ganzes Jahr älter. Er wurde nimmer müde, dies herauszustellen, deshalb kam ich ihm diesmal zuvor. Ich hoffte, die Diskussion damit zu beenden, und tatsächlich gab er Ruhe. Zumindest für den Augenblick.
    Die Frau und der alte Mann führten uns hinter ihre Kutsche, wo wir vor den Blicken der Holzfäller geschützt waren.
    Dort drehte sich die Dame zu uns um und schlug ihre Kapuze zurück.
    Anna!, durchfuhr es mich. Wiewohl: eine Täuschung. Es war nicht meine geliebte Anna, meine einst so heiß Begehrte, die seit Jahren verschollen war. Und doch schien mir der Winterabend mit einem Mal weniger eisig, denn der Anblick dieses Geschöpfes musste ganz andere Gewalten zum Schmelzen bringen als nur den schnöden Schnee.
    »Mein Name ist Jade«, sagte sie, »Prinzessin Jade von Rajipur, Tochter des Maharadschas und rechtmäßige Maharani des Jadeherzens Indiens.«
    Ihr Haar war ebenso seidig schwarz und wallend wie das meiner Anna, doch damit hörte die Ähnlichkeit auf. Die Prinzessin besaß zartbraune Haut, ebenmäßig und glatt wie poliertes Holz. Ihre Augen waren groß und beinahe schwarz, sodass Iris und Pupille nicht voneinander zu trennen waren. Die Flügel ihrer feinen Nase hatte sie mit je einem glitzernden Rubin durchstochen, eingefasst in Gold; ein, sagen wir, bemerkenswerter Schmuck, in der Tat. Und doch betonte er das Edle, wahrhaft Königliche in ihren Zügen umso mehr.
    Ich hätte mich auf der Stelle in sie verlieben mögen, hätte ihr erster Anblick nicht die Erinnerung an Anna von neuem geweckt, und mit ihr die Trauer um die verlorene Freundin. Jedoch, dies war schwerlich der rechte Zeitpunkt, der Vergangenheit nachzuweinen. Zu viele Jahre waren seither verstrichen, mehr als sieben.
    »Eine Prinzessin?«, fragte Jakob düster. »Das kann jede behaupten.«
    »Jakob«, schalt ich ihn leise. Himmel, hatte er den Verstand verloren?
    Die Prinzessin kicherte und warf ihrem Begleiter einen belustigten Blick zu. »Was muss ich tun, um meine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen?«
    »Sie könnten damit beginnen, dass Sie uns die Wahrheit über den Brief sagen«, entgegnete Jakob frech. Wahrlich, er war ein rechter Stoffel.
    »Was meinen Sie damit, junger Herr?«
    Ich begriff sehr wohl, was sie tat. Sie nannte ihn Herr, wie es eine Dienerin getan hätte; augenscheinlich spielte sie mit dem Vorurteil des Europäers gegen ihresgleichen. Jakobs Benehmen war mir peinlich bis ins Bein.
    An ihm selbst schoss dieser Pfeil um Ellen vorüber. »Sie können den Brief unmöglich vom Boden aufgehoben haben«, behauptete er sachlich. »Zu jenem Zeitpunkt, da er vom Tisch gefallen sein soll, waren Sie längst zur Tür hinaus. Erinnern Sie sich: Der Luftzug, als Sie die Tür öffneten, brachte das Feuer erst zum Ausbruch.«
    In ihren Augen glühte der Schalk, und ich sah, dass sie versucht war, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher