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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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vieren seine Schätze zurück in die heil gebliebenen Säcke zu schaufeln.
    Uns blieb nur, es ihm gleichzutun und zu hoffen, dass wir den Brief rechtzeitig fanden. Jakob und ich fielen auf Hände und Knie und begannen eilig, in den Papierbergen zu wühlen, in der schmalen Hoffnung, dabei das vertraute Dichtersiegel zu entdecken.
    Wer einmal versucht hat, unter Tausenden Siegeln ein bestimmtes zu finden, wird erahnen können, wie aussichtslos unser Unterfangen war. Nicht, dass wir dergleichen nicht gewusst hätten. Trotzdem gruben und lasen und verglichen wir weiterhin, krochen durchs Papiergestöber und scherten uns nicht um die Verwünschungen des Postillions, der natürlich bemerkte, was wir taten, ohne es jedoch zu begreifen. Auch war mir klar, dass es wenig Sinn hatte, ihm den Fall auseinander zu legen.
    Mit tränenden Augen – nicht allein vom Rauch, denn meine Zukunft stand auf dem Spiel – griff ich immer wieder mit beiden Händen in die Brieffluten, hob sie empor und ließ sie wieder herabregnen, wie ein Kind, das im Herbstlaub spielt. Meine Verzweiflung wuchs mit jedem Handgriff, mit jedem verworfenen Siegel, mit jedem unbekannten Schriftzug.
    Da legte sich mir eine Hand auf die Schulter. Sanft, nicht unfreundlich. Widerwillig ließ ich von meiner kläglichen Tätigkeit ab und blickte empor.
    Eine der beiden Kapuzengestalten war neben mich getreten. Noch immer kg ihr Gesicht im Schatten, doch eine feingliedrige Damenhand war aus einem der weiten Ärmel zum Vorschein gekommen und hielt mir den gesuchten Brief entgegen.
    »Ist es das, worauf Ihr Streben zielt, mein Herr?«, fragte eine Mädchenstimme mit merkwürdig singendem Tonfall.
    Mit selbstvergessenem Jauchzen sprang ich auf und ergriff das Schreiben. Ja, kein Zweifel, es war Goethes Brief. Überglücklich wandte ich mich an meine Retterin.
    »Tausend Dank, meine Dame, ich hoffe, ich kann – «
    Jakob, der nun neben mir stand, ging unwirsch dazwischen. »Wie kommen Sie an den Brief?«, fragte er und machte seinem mürrischen Ruf alle Ehre. Herrgott, ich hatte den Brief zurück, was tat es da zur Sache, wie er zu dieser Frau gelangt war?
    Sie senkte den Kopf, als wollte sie vermeiden, dass wir ihr Gesicht erblickten. »Ich sah, wie er von Ihrem Tisch fiel, und hob ihn auf.«
    Ich blickte Jakob an. Sein Misstrauen war ihm überdeutlich anzusehen. Und doch kam keiner von uns dazu, die Worte der Unbekannten zu hinterfragen, denn in jenem Augenblick geschah das, was niemals, niemals hätte passieren dürfen: Ich verlor den Brief ein zweites Mal. Ein neuer Windstoß, heftiger noch als der erste, schoss in die Wirtsstube, wirbelte die Rauchschwaden auf und entriss meinen Fingern das Schreiben. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage »entriss«: Fast war mir, als hätte eine unsichtbare Hand danach gegriffen.
    Das kostbare Dokument segelte auf der Bö in den hinteren Teil der Schenke, während der Wind die Reste der Glut zu neuer Wut entfachte. Einen Herzschlag später loderte ein hüfthoher Flammenwall aus den Briefen am Boden empor und schnitt ein Viertel des Raumes von uns ab. Und ebendort, gleich jenseits des Feuers und ihm zweifellos bald schon ausgesetzt, kam Goethes Schreiben zum Liegen. Schon griffen die ersten Flammen danach. Jeden Moment konnte das Papier im Feuer vergehen. Mein Glück, meine Zukunft, mein Leben würden bald nur noch Asche sein.
    Ich schrie auf, voller Verzweiflung, und übertönte damit das erstaunte Stöhnen, das durch die Menge ging. Denn plötzlich warf die zweite Kapuzengestalt ihren Mantel ab. Darunter kam ein alter Mann zum Vorschein, hoch gewachsen und dürr wie ein Reisigbündel, dabei braun gebrannt und – das war es, was alle so verblüffte – halb nackt! Der Mann trug nur ein Tuch um seine Lenden, nichts sonst. Er verstieß damit gegen alle guten Sitten – und hätte im Freien auf der Stelle erfrieren müssen. Offenbar aber bekümmerte ihn weder das eine noch das andere.
    Doch damit der Wunder nicht genug. Unter den ungläubigen Blicken aller trat er mitten in die Flammen, sehr langsam, sehr bedächtig, durchquerte den Feuerwall, bückte sich nach dem Schreiben, hob es auf und brachte es uns unbeschadet zurück. Jetzt erst sah ich, dass er barfuß war. Die Flammen hatten ihm nicht das Geringste anhaben können. Nicht einmal ein Rußfleck war zu sehen. Derweil stürzten sich der Wirt und der Postillion mit Decken und mit Schnee auf die Flammen und löschten sie.
    Ich nahm den Brief wie im Schlaf entgegen und steckte ihn
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