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Davids letzter Film

Davids letzter Film

Titel: Davids letzter Film
Autoren: Jonas Winner
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    »Süßmaus!«
    Christine Marin stellt den tropfnassen Teller zum anderen Geschirr neben das Spülbecken, zieht die Gummihandschuhe aus und
     dreht sich um.
    »Süßmaus?«
    Eben war sie noch hinter ihr gewesen. Das Malbuch liegt aufgeschlagen auf dem Küchenfußboden, die Stifte sind wild unter dem
     Tisch verstreut.
    Christine geht durch die Tür ins Wohnzimmer. »Maja?«
    In dem Zimmer ist niemand. Aber die Glastür, die in den Garten führt, steht offen und schwankt ein wenig im Wind.
    Kommt die Kleine denn jetzt schon an die Klinke?, schießt es Christine durch den Kopf. Sie tritt durch die Tür in den Garten.
    »Maja – wo steckst du denn?«, ruft sie und spürt, wie der Klang ihrer Stimme sie beunruhigt.
    »MAJA!« – als würde mit jedem Ruf aus dem, was doch nur die leise Vorahnung eines möglichen Albtraums sein kann, ein Stückchen
     mehr Wirklichkeit.
    Christine zwingt sich, ruhig zu atmen. Die Kleine ist mit Sicherheit beim Buddelkasten. Mit Förmchen spielen – die letzten
     Tage war sie ganz versessen darauf.
    Mit hastigen Schritten eilt Christine am Rosenbeet vorbei zu der Ecke des Hauses, hinter der sich der Buddelkasten befindet.
     Sie achtet nicht darauf, dass sie barfuß ist, dass die Kälte des Winterbodens ihr in die Fußsohlen schneidet.
    »Maja!« Echolos verfliegt ihr Ruf in der Winterluft. Christines ganze Aufmerksamkeit ist darauf konzentriert, einen Laut,
     einen Blick, ein Lachen, IRGENDWAS von ihrer Tochter zu erhaschen –
    Leer. Er ist leer. Der Buddelkasten ist leer!
    »MAJAA! Um Himmels willen, Maja, MAAJAAA!«
    Christine zittert. Sie dreht sich im Kreis. Das Herz in ihrer Brust pocht. Das   … Das kann doch nicht   … Ist sie auf die Straße gelaufen   … Bei all den Autos   …
    Christine rennt. Ihre nackten Füße fliegen über den harten Winterboden. Zur Gartenpforte.
    Die Straße der Wohngegend liegt ruhig und verlassen da. Ein paar geparkte Autos. Die Vorgärten der anderen Häuser. Niemand
     zu sehen.
    Im nächsten Augenblick hat Christine ihr Handy am Ohr, die zuletzt gewählte Nummer aktiviert. Das Klingelzeichen.
    Geh ran!, schreit es in ihr. Geh ran!
    »Ja?«
    »Maja, sie   … es   …«
    »Was ist mit Maja?«, unterbricht sie die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
    »Sie ist weg.«
    Für einen Sekundenbruchteil scheint die Zeit stillzustehen. Es kann doch nicht sein. Sie kann doch nicht weg sein.
    Christines Blick fliegt die Straße hinauf – hinunter. Niemand zu sehen.
    »Ich komme«, dringt es aus dem Telefon – dann bricht die Leitung zusammen.
    Christine läuft. Zum Vordereingang. Sie reißt das Einfahrtstor auf, schrammt sich an dem spröden Holz die Hand blutig, springt
     über die flachen Feldsteine, mit denen Hannes die Einfahrt gepflastert hat, die kleine Anhöhe zum Haus hinauf. Sie hat ihm
     so oft gesagt, dass er die Finger davon lassen soll. Dass er sich von diesen Leuten lösen muss. Dass er nicht länger zögern
     darf, aber er hat nicht auf sie gehört –
    NEIN, sie selbst, schießt es ihr da durch den Kopf, als würde ihr Blut plötzlich aufgekocht, sie selbst ist schuld daran,
     sie hätte ihn zwingen müssen, sich von diesen Leuten zu trennen, sie hat doch gewusst, dass so etwas passieren würde, dass
     es irgendwann zu spät sein würde. WIE HAT SIE ES NUR SO WEIT KOMMEN LASSEN KÖNNEN –
    Da hört sie es. Ein leises Schniefen.
    »Maja?« Christine wirbelt herum.
    Die Kleine steht an der Ecke des Hauses, beim Durchgang zum Garten, und starrt sie mit großen Augen an.
    Christine fliegt. Hat das Mädchen im nächsten Moment in den Armen geborgen. Als wollte sie Maja wieder in ihren Körper aufnehmen,
     den einzigen Platz, wo sie sie wirklich beschützen kann –
    »Maja Maja Maja Maja Maja Maja Maja Maja Maja«, perlt es aus Christines Mund, während sich die Dreijährige an ihre Mama kuschelt,
     ganz fest, die dünnen Kleider von der Winterluft kalt, die Arme um den
Hals der Mutter geschlungen, das Gesicht an ihrer Wange verborgen.
    »Wo warst du denn, ich   –«
    »Ich hab nichts Böses gemacht, Mama.«
    Christine hält ihr Töchterchen vor sich hin, erkennt den Schrecken und die Ratlosigkeit, die in dem so zarten, kleinen, verletzlichen
     Gesichtchen stehen.
    »Ich wollte nur   … ich darf doch   … es war   … ich hab nichts Böses gemacht   –«
    »Was ist denn passiert?«
    In Christines Kopf tost es. Das Gesichtchen der Tochter verzieht sich, ein Schluchzen schüttelt den kleinen Körper, Tränen
     hängen
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