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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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Dichter, er möge sich der Erziehung des Kindes annehmen! Ihr Herr Goethe eine Amme!
    Unverfroren war der Fremde, in der Tat, fraglos ein Nichtsnutz, von Größenwahn getrieben. Umso mehr erstaunte sie, wie ruhig und höflich der Herr Geheimrat blieb. Er lehnte ab, natürlich, doch er tat es mit den freundlichsten, den sanftesten Worten, als begreife er das Anliegen seines Gastes durchaus und könne es gar nachvollziehen. Trotzdem, er sagte Nein, und dabei blieb es.
    So nahm man Abschied voneinander, und Dorothea beeilte sich, davonzulaufen. Dabei rutschte sie in einer der Eispfützen aus, setzte sich im Nachtgewand ins Nasse und hatte alle Mühe, zu verschwinden, ehe man sie bemerken mochte. Holla, sie würde einiges zu erzählen haben, wenn sie sich am nächsten Tag mit dem Bauer Rosenberg zum Stelldichein traf!
    Vom Fenster aus beobachtete sie, wie der Franzose durch den Schnee zum Schlitten stapfte. Goethe schloss die Tür. Dann hörte sie, wie ihr Herr die Treppe hochstieg und abermals ins Arbeitszimmer trat. Niemand sonst schien die Störung bemerkt zu haben, weder der Kammerdiener noch Goethes junge Frau Christiane. Nach Minuten endlich herrschte Ruhe.
    Der Schlitten wartete immer noch vorm Haus. Der kleine Franzose stand unterhalb des Kutschbocks und redete auf den vermummten Lenker ein. Da, plötzlich, blickten sich die beiden um, gleichsam erschrocken, ängstlich gar. Der Franzose sprang gehetzt ins Innere der Kabine, der Lenker gab seinen Rössern die Peitsche. Eilig glitt der Schlitten davon, so geschwind, als ginge es um Leben und Tod.
    Und während sich Dorothea noch über den hastigen Aufbruch wunderte, preschten sechs Pferde auf der Spur des Schlittens dahin, darauf sechs schwarze Reiter. Gefolgsleute oder Verfolger? Ihre weiten Mäntel flatterten. Der dampfende Atem ihrer Pferde ließ sie dahinschweben wie auf einer Nebelwolke, die sie mit jedem Schritt umwogte. Nur dem Schnee war es zu danken, dass nicht ganz Weimar vom Trampeln der Hufe erwachte.
    Irgendetwas stimmte nicht mit den Gesichtern der Reiter. Dorothea presste Handflächen und Nase an die Scheibe. Durch das Netz der Frostkristalle erhaschte sie einen letzten Blick, nunmehr von hinten. Das waren doch keine Mützen auf ihren Hinterköpfen, auch kein Haar. Waren es … Federn?
    Nein, dachte sie, es war die Nacht, die sie täuschte. Die Nacht, ihre Aufregung und die Kälte auf den Scheiben. Schlitten und Reiter verschwanden im Dunkel. Bald schon würde der Schnee ihre Spuren zudecken; alle, bis auf die Pfützen im Haus.
    Lange noch stand Dorothea am Fenster und starrte zitternd hinaus in die Nacht. Doch alles, was sie sah, waren Eisblumen, die ihr Atem zu funkelndem Tau zerschmolz.

ERSTER T EIL
     
    Barfuß durchs Feuer – Träume von Blumen und Haarausfall –-
    Ein totes Kind, das lebt? – Fünf Fragen, fünf Teufel u nd eine
    Prinzessin – Vogelmenschen im Schmetterlingshaus –
    Leichenregen – Der Feind wünscht guten Abend
     

1
    I n der Wirtsstube roch es beißend nach Zwiebeln und Schweiß – und noch etwas anderem, seltsam Exotischem, das weder Jakob noch ich zu benennen wussten. Die beiden Fenster standen offen, trotz der Januarkälte, doch die frische Luft blieb ohnmächtig angesichts der Wirtshausschwaden. Über den Wipfeln des Hardtwalds herrschte düsteres Grau und brachte Kunde von mehr und noch mehr Schnee, der die Wege verstopfen und die Ödnis der Wälder noch einsamer, noch finsterer gestalten würde. Wollten wir vor Anbruch der Nacht und neuerlichen Schneemassen von hier fort sein, schien es ratsam, dies so schnell als möglich zu tun. Unsere Kutsche lag ein Stück weiter nördlich am Wegrand, ein Vorderrad geborsten, und dies Gasthaus schien der einzige Ort in der Wildnis, an dem wir auf Hilfe hoffen durften. Zwei Wagen standen vor dem Haus bereit zur Abfahrt, und unser Streben war es, in einem davon zwei Plätze zu ergattern, wenigstens bis zur nächsten größeren Stadt. Der eine war eine Postkutsche, und sie war es, die uns besonders geeignet erschien.
    Wir schrieben den ersten Tag des neuen Jahres 1813. An mehreren Tischen lärmten Holzfäller nach einer durchzechten Nacht und einem durchfeierten ersten Januar. Als wir den Schankraum betraten, stimmten sie gerade ein Lied an. Einer forderte uns mit erhobenem Bierkrug auf, uns den frohen Gesängen anzuschließen – was freilich weder an diesem noch an jedem anderen Tag unseren Neigungen entsprochen hätte. So traten wir einfach an ihnen vorüber, nicht ganz
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