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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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immer war der Schlosspark unter einem Meer von Schnee begraben. Schillernd und funkelnd lagen die Sterne im schwarzen Samt der Nacht. Kein Zweig rührte sich, kein Tier verließ seinen Bau. Nur ein Mensch, der nicht mehr wusste, dass er Mensch war, wagte sich ins Freie.
    Durch die eisige Kälte lief und sprang und hüpfte der arme Doktor Hadrian. Wedelte mit seinen Schwingen, tanzte durch den Schnee. Sang ein Lied vom Winterling.
    Quer über die Wiese eilte er, zu einer der Türen, wo ihn ein Wächter einließ. Man kannte den Doktor und seine Marotten. Verrückt war er wohl, na und?
    Hadrian fühlte nicht den Boden unter seinen Füßen. Er dachte: Ich schwebe, denn ich bin der Winterling. Er schwebte durch Säle und Hallen, durch finstere Salons, entlang kalter Flure im Mondenschein. Sein Ziel lag im Ostflügel, zu ebener Erde, zum Glück. Es war nicht leicht, mit seinen Schwingen Treppen hinaufzusteigen.
    So schwebte denn der Winterling zu einer hohen Tür. Sie war verschlossen, er musste sie aufstemmen, gleichgültig, ob ihn die Wachen hörten. Hinein glitt er und dann durch schwere Samtvorhänge.
    Um ihn war Bewegung. Brüder, Schwestern, einerlei. Der Winterling spielte und tollte mit ihnen im weißen Licht der Sterne, das durch die hohen Fenster fiel. Sie flatterten um ihn her, um seinen Mund, um seine Augen. Er versuchte sie zu küssen, doch sie waren zu schnell, zu flink, zu schwer zu fangen.
    Horch! Laute drangen vom Korridor in den Saal. Fußgetrappel, die Schritte plumper Wächterstiefel. Sie kommen, dachte er, sie kommen. Eile jetzt, oh, eile doch!
    Zu den Fenstern schwebte er, schnell und mit zitternden Schwingen. Riss die Riegel herab. Öffnete die Scheiben, so weit er nur konnte. Draußen war die Freiheit.
    Und alle flatterten sie hinaus. Welch ein Zittern und Toben in den Lüften, welche Freude, welch unbändige Lust am Leben!
    Der Winterling kletterte über die Brüstung, um ihn eine bunte Wolke. Frost schlug ihnen allen entgegen, warf die Ersten zu Boden. Manche kamen bis weit über den Weg hinaus, bis zu den vereisten Hecken im vorderen Park. Dort sanken sie in den Schnee. Schlugen noch einmal mit den Flügeln, ein zweites Mal, dann nicht mehr. Nie mehr.
    Der Winterling aber tanzte unterm Sternenhimmel und wünschte sich, er könne sein wie sie. Wünschte sich, er könne schweben und frei sein und sterben wie sie.
    Denn das war der Wunsch des Winterlings.
     

NACHWORT DES A UTORS
      
    Es war Alfred Döblin, der einst feststellte: »Der historische Roman ist erstens ein Roman und zweitens keine Historie.« Wie schon im ersten Abenteuer der Brüder Grimm, Die Geisterseher, vermischt auch diese Erzählung historische Wirklichkeit mit einer gehörigen Portion Erdachtem. Döblins Definition sei hiermit zum Motto erhoben.
    Goethe und Napoleon trafen sich wie beschrieben im Jahre 1808 beim Fürstenkongress zu Erfurt und wenige Tage darauf erneut in Weimar. Seit dem Mittelalter gab es keine vergleichbare Begegnung eines politischen mit einem dichterischen Genie – keine vergleichbare, weil beide Männer von so überwältigender Bedeutung für die Geschichte waren. Ein jeder war vom Verstand des anderen höchst angetan. Goethe hat lange über den Inhalt seiner Unterredungen mit dem Kaiser geschwiegen. In seinem Tagebuch findet sich dazu allein der karge Eintrag: »Nachher beim Kaiser.« Erst sechzehn Jahre später hat er das Gespräch auf vier knappen Seiten für die Nachwelt festgehalten.
    Nach seiner Niederlage in Rußland kehrte Napoleon 1812 nur in Begleitung seines Kutschers und des späteren Außenministers Caulaincourt zurück nach Paris. Dabei führte ihn sein Weg, auch das ist verbürgt, am 15. Dezember über Weimar. Über die Gründe des plötzlichen Aufbruchs aus Moskau wurde ausgiebig spekuliert; einen allgemeinen Konsens gibt es nicht. Manche Historiker führen einen Putsch in Paris als Ursache an, andere das Vorhaben des Kaisers, ein neues Heer aufzustellen.
    Historisch belegt ist Napoleons Wunsch, durch Rußland nach Indien zu marschieren. Seinem Vertrauten Narbonne gestand er diesen Traum mit folgenden Worten: »Nehmen Sie an, Moskau ist genommen, Rußland unterworfen, der Zar ergibt sich oder kommt bei irgendeiner Verschwörung am Hofe um. Sagen Sie mir, ist es dann für die französische Armee und die Hilfstruppen nicht möglich, den Ganges zu erreichen?« Freilich ist es so weit nicht mehr gekommen.
    Die Amrita-Kumbha und die Legende vom Polarstern entstammen der indischen Mythologie.
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