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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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der beiden Männer. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und die Last der Lüge verriet sich nun in einer gewissen Fahrigkeit seiner Bewegungen.
    »Gehen wir zurück ins Arbeitszimmer«, bat er leise.
     
    * * *
     
    Die Tür der Kammer war verschlossen. Goethe rüttelte besorgt an der Klinke, ohne Erfolg.
    »Sie haben Jade doch nicht eingeschlossen, oder?«, fragte ich unsicher.
    »Selbstverständlich nicht«, gab er zurück. »Sie muss von innen etwas davorgeschoben haben.«
    »Warum hätte sie das tun sollen?«
    Ich rief ihren Namen, laut, den Mund ganz nah am Holz der Tür. Ein zweites Mal: »Jade! Machen Sie die Tür auf! Was ist los?«
    Im Inneren wurde etwas umgestoßen. Blätter flatterten über den Boden.
    Goethe holte tief Luft. »Sie durchsucht die Schränke und Regale. Ich hätte ihr nichts davon sagen sollen.«
    »Wovon?«, fragte ich, und Jakob setzte hinzu: »Was meinten Sie, als Sie sagten, Sie wollten ihr etwas geben, das ihr gehört?«
    Goethe zuckte zusammen, als drinnen eine Schublade aufgerissen wurde und zu Boden polterte. »Können Sie sich das nicht denken? Sie wissen doch, weshalb die Prinzessin hier ist. Und Sie wissen, was sie sucht.«
    Fassungslos starrte ich ihn an. »Erst den Prinzen und nun auch – «
    »Die Amrita-Kumbha«, führte Jakob meinen Satz fast ehrfurchtsvoll zu Ende.
    Der alte Dichter wandte sich wieder zur Tür: »Bitte, Prinzessin, öffnen Sie. Sie sollen sie ja bekommen. Warum müssen Sie vorher meine ganze Einrichtung zerstören?« Seine Sorge wirkte nur oberflächlich, so als ginge es ihm in Wahrheit gar nicht um ein paar Schubfächer und Papiere.
    Mir dagegen standen all die literarischen Werte vor Augen, die Jade achtlos aus Schränken und Regalen zerrte. Sie trat des Dichters Werk im wörtlichen Sinne mit Füßen.
    Ein wenig erschrocken bemerkte ich, dass in meinem Kopf immer noch zwei Bilder Goethes existierten. Das eine der undurchschaubare Taktiker, der den Tod eines Kindes in Kauf genommen hatte; das andere der großartige Literat von Weltruhm, eine Ikone der Schriftkunst und Kultur, ein Idol.
    Welcher der beiden war es, der jetzt erneut an die Tür pochte? So unvereinbar diese beiden Wesenheiten waren, hier standen sie doch vor mir, in einen einzigen Körper gegossen und von den alltäglichen Gebrechen des Alters geplagt.
    Jade antwortete noch immer nicht, und so eilte Goethe zur Nebentür und betrat durch sie die Bibliothek. In der düsteren Kammer, die bis zur Decke mit Büchern voll gestopft war, gab es einen zweiten Zugang zum Arbeitszimmer. Doch auch jener war versperrt.
    Im Inneren des Zimmers verstummte mit einem Mal der Lärm. Die plötzliche Stille bereitete mir größeres Unwohlsein als der Tumult, den Jade zuvor veranstaltet hatte.
    Goethe hob ergeben die Schultern. »Zweifellos hat sie gefunden, was sie suchte.«
    »Sie haben die Amrita-Kumbha tatsächlich in Ihrem Arbeitszimmer aufbewahrt? Ohne jeden Schutz? Ohne …« – ich rang nach Worten – »… ohne jede Achtung?«
    »Zur Seite!«, wies Jakob uns an. Goethe und ich konnten gerade noch beiseite treten, da hatte Jakob schon Anlauf genommen und stürmte mit der Schulter gegen die Tür. Mit einem Schmerzensschrei prallte er gegen das Holz. An der Rückseite polterte etwas, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
    Jakob hielt sich die geprellte Schulter und zwängte sich ins Arbeitszimmer. Ich folgte ihm, Goethe kam als Letzter. Als er einen ersten Blick ins Innere erhaschte, wurde er blass.
    Der Boden war mit handbeschriebenen Papieren bedeckt. Auf manchen erkannte ich schmale Strophen, andere waren von Rand zu Rand beschriftet. Es würde wohl eine Weile dauern, ehe der Dichter seine Schriften wieder geordnet haben würde. Tisch, Stühle und Goethes Pult waren vor die Türen geschoben worden. Überall lagen ausgekippte Schubladen umher.
    Jade saß auf dem linken Fensterbrett, die Knie eng an den Oberkörper gezogen. Ihre Hände umschlossen schützend einen Gegenstand, kaum länger als mein Zeigefinger. Ihr Blick war trotz unseres lautstarken Eintretens fest auf ihren Schatz gerichtet. Weißes Mondlicht fiel durchs Fenster und meißelte ihr schmales Gesicht in Marmor.
    Goethe stemmte zornig die Hände in die Hüften. »War das wirklich nötig?« Hilflos geisterte sein Blick über das Schlachtfeld seines Arbeitszimmers.
    Jade gab keine Antwort, aber sie schaute auf und erwiderte trotzig unsere Blicke.
    Ich deutete auf das Ding in ihren Händen. »Ist sie das?«, fragte ich leise.
    Die
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