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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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Brüder Grimm«, begann Goethe. Ohne mit der Wimper zu zucken, tischte er nun eine Lüge nach der anderen auf: »Sie können sich meine Verwirrung sicher vorstellen, vermutete ich die beiden doch, oder wenigstens einen von ihnen, in Karlsruhe – in Ihrer Obhut, lieber Dalberg. Nun aber standen sie mit einem Male vor meiner Tür, und nicht nur in wenig erfreulichem Zustand, sondern noch dazu mit einem schreienden Kindlein im Arm. Eine höchst merkwürdige Fügung, wie mir schien. Ich vertraute den Prinzen meiner Frau an, die ihn sogleich mit aller Hingabe umsorgte. Unsere beiden Grimms aber bat ich, mir ihre Geschichte zu erzählen, was sie bereitwillig taten.«
    Und nun berichtete Goethe dem staunenden Dalberg und seinem Rittmeister, was Jakob und ich ihm angeblich erzählt hatten: dass wir uns in jener Nacht im Wald verlaufen hatten und auf die Priester Catays gestoßen waren. Dass wir ihnen unter großen Mühen entkommen waren und hilflos mit ansehen mussten, wie die drei sich auf die badischen Soldaten stürzten. Und dass wir daraufhin in Panik die Flucht ergriffen, nur um tiefer im Wald, wie der Zufall es wollte, Stanhopes Lager zu entdecken. Mit Hilfe einer klugen List – die Goethe bis ins Detail zu schildern wusste und die mich gar mit Stolz erfüllte, obgleich sie doch nur des Dichters Geist und nicht der Wirklichkeit entstammte – gelang es uns, dem erschöpften Lord das Kind zu entreißen. Da wir fürchteten, die drei Priester könnten Dalberg und seine Soldaten überwältigt haben, beschlossen wir, auf schnellstem Wege dorthin zu fliehen, wo wir uns und das Kind in Sicherheit wähnten, nach Weimar. Unterwegs trafen wir die Prinzessin wieder, die sich aus Karlsruhe davongemacht hatte und nun auf dem Weg zur Küste war, um dort an Bord eines Schiffes in ihre Heimat zurückzukehren. Sie begleitete uns bis zu Goethes Schwelle und ritt schließlich weiter nach Norden; ebenso wie der Verräter Stanhope musste sie mittlerweile über alle Berge sein.
    Fast eine Stunde lang machte der große Dichter seinem Ruf alle Ehre. Die Geschichte, die er vor uns ausbreitete, gelang ihm ganz ausgezeichnet, und seine brillante Art, sie zu schildern, übertünchte sogar die Ecken und Kanten, von denen sie doch einige aufwies. Und zum guten Schluss setzte er dem Ganzen einen Reim als Krone auf: »Den Zufall bändige zum Glück, ergötz am Augentrug den Blick, hast Nutz und Spaß von beiden.«
    Dalberg und Stiller hatten aufmerksam zugehört, betört von Goethes opulenter Schilderung unseres Abenteuers. Schließlich saßen sie da wie zwei Kinder am Ofen der Großmutter: mit weiten Augen und offenem Mund, voller Staunen über Glück und Geschick der Helden.
    Innerlich wand ich mich vor Scham, doch bemühte ich mich, eine ernste Miene zur Schau zu tragen. Ich verstand noch immer nicht, was für ein Spiel Goethe trieb. Und doch blieb uns keine andere Wahl, als uns darauf einzulassen.
    »Ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen«, erklärte Dalberg schließlich, stand auf und schüttelte Jakob und mir die Hand.
    Stiller blieb zurückhaltender. Erst glaubte ich, er habe Zweifel an Goethes Garn, dann aber begriff ich, dass er sich schämte, das Wort an uns zu richten. Mit finsterem Blick starrte er zu Boden und schien sich dringlich zu wünschen, an einem anderen Ort als diesem zu sein.
    Goethe bot den beiden an, ihnen Nachtquartiere bereiten zu lassen und einen Doktor zu rufen, der sich ihrer Verletzungen annähme. Doch Dalberg lehnte ab. »Ich mag nicht noch tiefer in Ihrer Schuld stehen, lieber Freund. Ihre Magd soll uns nur den Weg weisen, und wir werden selbst zum Haus des Doktors gehen und die Nacht in einem Wirtshaus verbringen. Das Kind wissen wir bei Ihnen in besten Händen. Morgen dann wollen wir nach einer Kutsche und einer Amme Ausschau halten und aufbrechen.«
    Er hatte wohl insgeheim gehofft, Goethe würde darauf bestehen, dass sie in seinem Haus übernachteten, doch der Dichter tat nichts dergleichen. Er bestätigte nur freundlich, dies sei sicherlich der beste Weg und wir alle sollten nun schlafen gehen. Daraufhin verabschiedeten sich die beiden Männer und ließen sich von Goethe zur Haustür geleiten.
    Erst als der Dichter alleine zurückkehrte, fand ich meine Sprache wieder. »Bis eben waren Sie uns nur eine Erklärung schuldig«, brachte ich bebend hervor. »Jetzt aber ist wohl eine rechte Offenbarung zu erwarten.«
    Goethe lachte, aber er wirkte längst nicht so gelöst und fröhlich wie eben noch im Angesicht
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