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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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doch ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen.
    »Napoleon erklärte sich einverstanden, ja, er war mir sogar ausgesprochen dankbar und bat mich, Ihnen zu schreiben und Sie nach Karlsruhe einzuladen. Dort sollten Sie von Dalberg beizeiten alles Weitere erfahren.«
    »Was ist mit der Amrita-Kumbha?«, fragte Jade ungeduldig. Sie hielt die winzige Phiole immer noch mit beiden Händen umklammert. Wenn sie nicht Acht gab, würde sie sie noch zerdrücken.
    »Sie sollen alles erfahren, meine Liebe«, erwiderte Goethe. »Wie Sie gesehen haben – und wie Ihre beiden Begleiter schon seit Jahren wissen –, bin ich ein begeisterter Sammler antiker Kunst. Dieses Haus ist voll von Statuen, Vasen und ähnlichen Dingen. Napoleon, nach der einsamen Reise über die russischen Eisebenen in Plauderlaune, offenbarte mir, dass es ihm gelungen sei, die Amrita-Kumbha an sich zu bringen. Ich hatte nie zuvor davon gehört und bat ihn um Erklärung. So erzählte er mir von der Legende und wie es ihm gelungen war, die Phiole in seinen Besitz zu bekommen. Nach allem, was wir miteinander erlebt haben, meine Herren, muss ich Ihnen nicht mein brennendes Interesse an dieser Kostbarkeit schildern. Ich bat den Korsen kurzerhand, den Inhalt der Phiole zu trinken, hier in meinem Haus und auf der Stelle.«
    »Was?«, entfuhr es Jade. »Wie konnten Sie –?«
    »Nicht ich, werte Prinzessin. Er, Napoleon, der Kaiser selbst, hat die Phiole entkorkt – und ausgetrunken.«
    Jade sprang auf. Sie war bleich geworden und zitterte am ganzen Leib. Ihre Blicke irrten zwischen Goethe und dem Gefäß in ihren Händen hin und her. Ihre Stimme bebte. »Keinem Menschen ist es gestattet, die Amrita-Kumbha zu öffnen! Niemandem!«
    Jakob beugte sich vor und sah Goethe eindringlich an. »Wollen Sie damit sagen, die Phiole ist leer?«
    Goethe senkte seine Stimme. »So Leid es mir tut.«
    »Nein!«, kreischte Jade auf. »Sie lügen!«
    »Warum schauen Sie nicht nach?«
    »Ich darf die Amrita-Kumbha nicht öffnen!« Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen. »Niemand darf das!«
    Jakob stand auf und streckte die Hand aus. »Ich kann es tun. Geben Sie sie mir. Ich bin kein Inder.«
    »Nein!«, rief sie noch einmal. »Das ist Blasphemie! Ein Verstoß gegen die Gesetze der Götter. Nicht einmal die Tempelpriester dürfen sie öffnen. Die Essenz des Lebens befindet sich darin, ein Teil des Göttlichen selbst.«
    Jakob ließ sich in den Sessel zurückfallen. In Jades Zustand war es sinnlos, zu streiten. Ebenso gut hätte man versuchen können, dem Papst den Glauben an den Messwein zu nehmen.
    Aufgebracht lief sie im Zimmer auf und ab, betrachtete die tönerne Phiole von allen Seiten und warf immer wieder hasserfüllte Blicke auf den Hausherrn. Das Verlangen, den Pfropfen herauszuziehen und nachzusehen, ob Goethe die Wahrheit sagte, tobte in ihr mit aller Macht.
    Ich zauderte noch, konnte dann aber die Frage nicht länger zurückhalten: »Sie meinen, wenn Sie die Amrita-Kumbha in Ihre Heimat zurückbringen, wird niemand hineinsehen und nachschauen, ob sie noch voll ist?«
    »Natürlich nicht!«, entgegnete sie wütend.
    »Warum vergessen Sie dann nicht einfach, was vorgefallen – oder nicht vorgefallen ist?«, fragte ich.
    Ihre schwarzen Augen schossen einen zornigen Blick in meine Richtung. »Wie könnte ich das? Wie könnte ich mit der Wahrheit leben?«
    »Vielleicht habe ich gelogen«, sagte Goethe leise.
    »Das haben Sie nicht!«, fuhr sie ihn an.
    »Beweisen Sie es mir«, forderte er. »Offnen Sie die Phiole.«
    Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Unschlüssigkeit machte sich auf ihren Zügen breit.
    »Wollen Sie nun hören, wie es weiterging?«, fragte Goethe sanftmütig.
    Jade schwieg, aber Jakob antwortete: »Erzählen Sie.«
    Der Dichter lehnte sich zurück. »Napoleon verzog nur das Gesicht, nachdem er – nun, ich will es kein weiteres Mal aussprechen. Nichts weiter geschah, ihm wurde nicht einmal übel. Die Phiole selbst war danach für ihn wertlos, und so bat ich ihn, sie mir für meine Sammlung zu überlassen. Nach kurzem Zögern willigte er ein, wohl weil er glaubte, in meiner Schuld zu stehen. Dann verließ er mich, nicht ohne mir noch einmal das Versprechen abzunehmen, ich möge Ihnen schreiben und Sie nach Karlsruhe bestellen.
    Ich zögerte erst, die übrigen Mitglieder des Quinternio von dieser Fügung in Kenntnis zu setzen. Der Kaiser hatte mir erzählt, dass er seit geraumer Zeit von Reitern verfolgt werde, von seltsamen
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