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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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Männern mit Vogelmasken. Daraus und aus einigen Bemerkungen über die wirren Verhältnisse am Karlsruher Hof schloss ich, dass das Kind in größter Gefahr war. Ich fürchtete, der Quinternio könnte mich überstimmen und dem Prinzen ebenfalls ein Leid antun, um dem Kaiser und seinen Plänen zu schaden. Wie leicht aber hätte man die Spuren dann hierher zurückverfolgen können!
    Nach einiger Überlegung kam ich dennoch zu der Entscheidung, den anderen alles zu berichten, in der Hoffnung, sie mit gesundem Menschenverstand von meinem eigenen Plan überzeugen zu können. Zu meinem Entsetzen aber beschlossen sie sogleich, den Verräter Stanhope, einen käuflichen Agenten, mit der Entführung des Kindes zu beauftragen. Seine Nähe zu Dalberg machte ihn zum idealen Mann für diese Aufgabe. Freilich ahnte keiner von uns, was für ein Schurke er wirklich war und welche Mittel er für seine – und damit leider auch unsere – Ziele einsetzen würde.
    Als ich sah, welch verheerende Dummheit die anderen begehen wollten, verschwieg ich ihnen das genaue Versteck des Prinzen und hoffte, Stanhope würde bereits an dieser Hürde scheitern. Sicherheitshalber setzte ich jedoch meinen eigenen Plan in die Tat um, ohne dass die übrigen Mitglieder des Quinternio davon erfuhren. Dabei nutzte ich die gleiche List, die Dalberg und Napoleon bereits in Karlsruhe angewandt hatten: Ich ließ das Kind austauschen.«
    »Deshalb die falsche Amme!«, rief Jakob aus.
    Goethe seufzte. »Ja, die Amme. Sie ist tot, sagen Sie, nicht wahr?«
    »Von Stanhope ermordet«, bestätigte ich.
    Er schloss einige Atemzüge lang die Augen. »Dies und der Tod des Kindes ist eine Schuld, mit der ich fortan leben muss. Ich fürchte, dafür gibt es keine Entschuldigung.«
    »Dann wechselten Sie also das Kind samt seiner Amme im Felsenhaus aus, damit Stanhope nicht den echten Prinzen in die Hände bekam«, folgerte ich.
    »So ist es«, erwiderte er bedächtig. »Hoffen wir, dass Dalbergs Glücksgefühle noch so lange anhalten, dass ihm diese Diskrepanz erst wieder einfällt, wenn er auf dem Rückweg nach Karlsruhe ist. Die echte Amme erhielt eine großzügige Abfindung und tauchte bei Verwandten im Ausland unter. Den Prinzen aber nahm ich insgeheim in mein Haus auf, um ihn im Ernstfall Dalberg und damit dem Kaiser übergeben zu können. Der Plan der anderen musste fehlschlagen. Es war dumm genug, dass sie einem Mann wie Stanhope ihr Vertrauen schenkten; es hätte sie nicht überraschen sollen, dass ihm das Kind bei solcher Witterung unter den Händen starb.«
    »Dann war meine Reise nach Karlsruhe von Anfang an sinnlos«, warf ich ein, »nichts als eine Tarnung für Ihre Unternehmung, nicht wahr?«
    »Dafür muss ich Sie wohl um Verzeihung bitten«, sagte er. »Ich wusste, dass Sie kluge Männer sind, die dieser Intrige nicht verfallen würden.« Mit einem Seitenblick auf Jade fügte er hinzu: »Ich konnte ja nicht ahnen, dass eine gewisse Prinzessin auftaucht und alles durcheinander bringt.«
    »Dieser kleine Junge, der jetzt im Park begraben liegt, woher stammte er?«, fragte Jakob mit schwerer Stimme.
    Goethe sank unmerklich in sich zusammen. »Er war ein todkrankes Kind, ebenso wie jenes, das Dalberg in Karlsruhe gegen den Prinzen eintauschte. Ich ließ ihn über Mittelsmänner aus einem Erfurter Waisenhaus holen. Der Kleine wäre bald gestorben, die Ärzte gaben ihm noch fünf, höchstens sechs Wochen. Aber das entschuldigt nicht, dass er durch mein Tun selbst diese schmale Spanne Leben verlor. Ich habe eine Sünde begangen, die ich nicht vergelten kann.«
    Eine Weile sprach keiner ein Wort. Selbst Jade schwieg und setzte sich lautlos wieder in den Sessel.
    Schließlich sagte Jakob: »Hätten Sie es nicht getan, dann wäre statt seiner der Prinz gestorben.«
    »Das ist keine Rechtfertigung«, sagte Goethe. »Vielleicht wäre es besser gewesen. Vielleicht hätte ich mich nicht gegen die Pläne des Quinternio stellen dürfen. Aber letzten Endes hätte Napoleon einen anderen Erben gefunden, und alles wäre umsonst gewesen.«
    »War es das nicht auch so?«, fragte Jade plötzlich, und sie klang mit einem Mal viel ruhiger. »War nicht sowieso alles umsonst?«
    Keiner wusste darauf eine Antwort. Die Betroffenheit im Zimmer war jetzt so spürbar wie ein übler Geruch.
    Eine Frage aber gab es noch, vielleicht jene, auf die es ankam. Meine Stimme drohte zu versagen. »Was, wenn das Elixier seine Wirkung tut? Wenn Napoleon wirklich unsterblich wird?«
    Goethe zuckte
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