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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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Prinzessin nickte. »Sie ist es.«
    Jakob sah Goethe scharf an. »Wie, um Gottes willen, kommt sie hierher? Der Kaiser hat sie Ihnen doch kaum geschenkt, oder?«
    Ein gequältes Lächeln erschien auf Goethes Zügen. »Aber freilich hat er. Und wenn erst der Prinz wieder dort ist, wo er hingehört, wird der Kaiser mir noch sehr viel dankbarer sein.«
    Ich trat auf Jade zu. »Ist sie beschädigt?«
    »Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht. Kaum einer hat sie je gesehen. Sie wurde tief im Tempel aufbewahrt, und selbst die Priester, die sie bewachten, haben seit Generationen keinen Blick darauf getan. Erst Napoleons Lakaien entrissen sie dem heiligen Schrein und brachten die Amrita-Kumbha ans Licht.«
    Ich räusperte mich leise. »Wie können Sie dann wissen, dass sie es wirklich ist?«
    »Sie ist es«, ertönte Goethes Stimme in meinem Rücken.
    Und auch Jade nickte voller Überzeugung. »Ich spüre es. Das hier ist ein Teil der Götter. Können Sie es nicht fühlen? Nein, natürlich nicht. Sie glauben nicht an die Macht der Phiole.«
    Goethe bedachte Jade mit einem zornigen Blick. »Für das, was Sie getan haben, sollte ich Sie aus dem Haus werfen. Ich werde es nicht tun, um Ihrer beiden Gefährten willen. Sie würden es mir übel nehmen, fürchte ich.« Mit weiten Schritten stieg er über die Papiere hinweg zur Tür. »Falls Sie alle nach wie vor auf Erklärungen bestehen, sollten Sie mir jetzt folgen. Hier drinnen ist es ein wenig« – er schnaubte verächtlich – »ungemütlich geworden.«
    Jakob und ich beeilten uns, hinter ihm herzugehen. Jade folgte in einigem Abstand, fast als fürchtete sie, jemand wolle ihr das Heiligtum wieder streitig machen.
    Wir folgten dem Dichter hinunter in den ersten Stock und durch mehrere Zimmer, in denen er seine reiche Sammlung antiker Plastiken und Kunstgegenstände aufbewahrte. In einem Zimmer mit roten Wänden – »die Farbe hoher Würde«, wie Goethe meinte – setzten wir uns nieder. An den Wänden hing eine Unzahl hölzerner Wechselrahmen, die der Zeichner Goethe mit eigenen und fremden Grafiken versehen hatte. Durch die Fenster erkannte ich im Mondschein den einsamen Brunnen auf dem Frauenplan.
    Goethe ergriff das Wort: »Im September vergangenen Jahres wurde, wie Sie wissen, der Erbprinz von Baden geboren. Ich muss Ihnen nicht noch einmal die Umstände seiner Geburt, des Kindertauschs und seines angeblichen Todes schildern – davon haben Sie bereits gehört. Gut zwei Monate später, am 6. Dezember, verließ Napoleon seine geschlagenen Armeen in Rußland und machte sich inkognito, nur in Begleitung seines Getreuen Caulaincourt und eines Kutschers auf den Heimweg nach Paris. Die Amrita-Kumbha hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits bei sich, auch das wissen Sie. Kommen wir lieber zu den Dingen, die neu für Sie sind.«
    Er hustete kräftig, kam wieder zu Atem und fuhr mit heiserer Stimme fort: »Am Abend des 15. Dezembers pochte es an meiner Tür. Sicher vermögen Sie sich vorzustellen, wer dort bei klirrender Kälte um Einlass bat? Kein Geringerer als der Kaiser selbst. Wir hatten uns zuvor bereits zweimal getroffen, einmal beim Fürstenkongress in Erfurt und kurz darauf ein zweites Mal hier in Weimar. Das war 1808, wenn ich mich recht entsinne. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass der Korse mich während unserer Gespräche schätzen lernte; dass auch er mich mit seiner erstaunlichen Bildung beeindruckte, habe ich Ihnen ja bereits gestanden.
    Daran muss er sich erinnert haben, als ihn sein Weg in jener Nacht vor sechs Wochen über Weimar führte. Zu meinem Erstaunen trug er eine Bitte vor. Unter dem Siegel größter Verschwiegenheit berichtete er mir von den Ereignissen in Karlsruhe und seiner Absicht, den neugeborenen Prinzen als Erben einzusetzen. Dann fragte er mich, ob ich nicht die Erziehung des Kindes übernehmen könne, damit ein, wie er sagte, ›wahrer Herrschen aus ihm werde.« Goethe gestattete sich ein jungenhaftes Schmunzeln. »Sicher hätte er anders gesprochen, hätte er vom Quinternio gewusst. Doch, egal! Ich gab also vor, das Angebot zu überdenken, und fragte, wo das Kind versteckt sei. Napoleon, der mir vertraute und den einmal eingeschlagenen Weg nun zu Ende gehen wollte, gab mir eine Beschreibung jenes Steinbruchs und seiner Lage. Daraufhin erklärte ich ihm höflich, mein Alter lasse solche Strapazen leider nicht mehr zu. Stattdessen schlug ich Sie als Ersatz vor, Herr Grimm.«
    So also hatte alles begonnen. Fragen drängten sich mir auf,
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