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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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hilflos mit den Schultern. »Das, Herr Grimm, wird die Geschichte zeigen.«
     
    * * *
     
    Wenig später legten wir uns aufgewühlt, aber sterbensmüde zur Ruhe. Jakob und ich teilten uns ein Zimmer, Jade schlief eine Tür weiter. Mein Bruder und ich sprachen kaum miteinander, ein jeder hing für sich seinen finsteren Gedanken nach. Irgendwann schlummerten wir ein.
    Wir hörten nicht, wie die Prinzessin im Morgengrauen ihr Zimmer verließ, hörten auch nicht die Hufe ihres Pferdes auf dem Hof.
    Als Dorothea uns in den späten Morgenstunden weckte, waren ihre ersten Worte: »Sie ist fort.«
    Es tat weh, sicher, aber es war besser so. Kein Abschied und keine Tränen im Tageslicht. Es war besser so. Dieser Satz! Wie oft hatte ich mich damit beruhigt? Vier Wörter, die alles erklärten, alles entschuldigten, so einfach, so mühelos. Zauberspruch der Erleichterung – oder Fluch der Leichtfertigkeit? Sollten andere darüber entscheiden. Ich war des Deutens müde.
    Am gleichen Tag noch machten wir uns auf die Rückreise nach Kassel. Dalberg erklärte sich bereit, die Kosten der Fahrt zu begleichen und dem Kaiser eine Empfehlung zu überbringen. Sein Angebot, an der Seite des Kindes zu bleiben, schlug ich dankend aus.
    Bevor wir abreisten, führte Goethe meinen Bruder und mich in die Küche. Ich nahm an, er wollte uns Wegzehrung aufdrängen. Dann aber zog er den schwarzen Mantel und die Maske hervor, die er in der Nacht im Park getragen hatte. Er öffnete die Ofenklappe und warf beides ins lodernde Feuer. Es war eine kindische Geste; aber ist es nicht das, was mit dem Alter einhergeht? Selbst Goethe war nicht dagegen gefeit. Symbole bedeuten Ordnung, sie bringen Beruhigung.
    Nach allem bin ich nicht sicher, ob er sie wirklich verdient hat.
     
    * * *
     
    Damit endet mein Anteil an dieser Geschichte, wenngleich die Ereignisse um den badischen Prinzen erst ihren Anfang nahmen.
    Im Jahr darauf unterlag Napoleons Armee in der Völkerschlacht zu Leipzig den verbündeten Heeren seiner Gegner. Die Niederlage läutete den Untergang des Korsen ein. Sieben Jahre später, im Mai 1821, starb er in der Verbannung auf der Insel Sankt Helena. Seine Pläne für die Zukunft des totgeglaubten Prinzen gerieten in Vergessenheit, ebenso das Versteck des Jungen.
    Bereits 1816 war im Rhein eine rätselhafte Flaschenpost angetrieben worden, in der von einem geheimen Thronerben die Rede war. Niemand wusste Rechtes damit anzufangen.
    Am Pfingstmontag des Jahres 1828 taumelte ein junger Mann über den Unschlittplatz zu Nürnberg. Er vermochte kaum zu laufen und stieß nur wenige, scheinbar wirre Worte aus. Ein braver Mann nahm ihn auf und lehrte ihn sprechen, schreiben und alles andere, was zum Leben nötig ist. Verwandte schien der Junge keine zu besitzen, niemand wusste, woher er kam. Einem Zettel, den man bei ihm fand, entnahm man seinen Namen – Kaspar Hauser. Bald schon kamen Gerüchte auf, die ihn in Verbindung zum Inhalt der mysteriösen Flaschenpost brachten.
    Im Mai 1831 machte Kaspar die Bekanntschaft eines reichen Engländers, der sich ihm unter dem Namen Philip Henry Lord Stanhope vorstellte. Man muss daraus schließen, dass es dem Lord achtzehn Jahre zuvor gelungen war, aus den eisigen Fluten der Um zu entkommen; wie er dieses Wunder vollbracht hat, wird sein Geheimnis bleiben.
    Stanhope begann, sich ausgiebig um Kaspars Freundschaft zu bemühen, er schenkte ihm edle Kleidung und Geld und führte ihn in die höfische Gesellschaft ein. Er bat gar, dass man ihm die junge Waise als Mündel unterstelle, und viele waren nur zu geneigt, dem charmanten Lord diesen Wunsch zu erfüllen.
    Wenig später aber, von nahezu einem Tag auf den anderen, wandte Stanhope sich von dem Jungen ab, denunzierte ihn als Betrüger und untergrub die Sympathien, die Adel und Öffentlichkeit dem Findelkind entgegenbrachten. Einige behaupteten, der Lord habe von Anfang an nichts anderes im Sinn gehabt.
    Schließlich, am 14. Dezember des Jahres 1833, als Kaspar sich dem Geheimnis seiner Herkunft so nahe fühlte wie nie zuvor, wurde er im Ansbacher Hofgarten von einem Unbekannten angegriffen und durch einen heimtückischen Messerstich niedergestreckt. Er starb drei Tage später.
    Als Kaspar Hauser fünfeinhalb Jahre zuvor in Nürnberg aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte er außer Tränen, Schmerzensschreien und wirren Silben nur einen einzigen vollständigen Satz hervorgebracht:
    »Ein solcher möcht ich werden, wie mein Vater einer war.«
     

E PILOG
    Und noch
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