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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin
Autoren: Kai Meyer
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ungeduldig auf: »Ich verlange endlich eine Erklärung.«
    Stiller kam allen anderen zuvor. »Was braucht es da noch Erklärungen? Ist Ihnen bekannt, meine Herrn, was auf Verrat am Kaiser steht? Sicher bedarf auch das keiner Erklärung!«
    Ein Kloß entstand in meinem Hals. Ich hätte nichts sagen können, selbst wenn Goethe es gestattet hätte.
    »Bitte haben Sie noch ein wenig Geduld«, bat er.
    »Worauf warten wir denn?«, fragte Dalberg unwirsch.
    Goethe lächelte liebenswürdig. »Auf meine Frau.«
    »Aber-«
    »Bitte!«, unterbrach Goethe ihn höflich, wenn auch nicht ohne Schärfe. »Wir mögen noch so viel reden und werden zu keinem Ergebnis kommen, ehe Christiane nicht bei uns ist.«
    Ich sah Jakob verdutzt an, doch er zuckte nur mit den Achseln.
    So also warteten wir. Eine Minute verstrich, dann zwei, drei, vier. Ich gab mir Mühe, Stillers Blicken auszuweichen. In seinen Augen loderte purer Hass.
    Goethe zog seine Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf, verfolgte den Lauf der Zeiger. Ihr Ticken hallte in meinen Ohren wider, dröhnte immer lauter, fast schmerzvoll. Die Anspannung war unerträglich.
    Endlich näherten sich leichtfüßige Schritte. Ich hörte ein Geräusch hinter der Tür, erkannte gar, was es war, sagte mir aber, das sei unmöglich. Auch die anderen hatten es gehört. Dalberg legte die Stirn in Falten.
    Die Tür ging auf, und Christiane von Goethe trat ein. Die Frau des Dichters war fast zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte. Sie trug ein schlichtes, grünes Hauskleid, wohl in aller Eile übergeworfen, hatte große, freundliche Augen und schwellende Lippen. Ihre Wangen strahlten trotz der späten Stunde von rosiger Gesundheit, sie war klein und fraulich gerundet.
    In ihren Armen hielt sie ein Kind. Sein Weinen war es gewesen, das wir alle vor der Tür vernommen hatten.
    »Einen guten Abend wünsche ich den Herrn«, sagte sie mit sanfter Stimme, hielt dabei jedoch den Blick liebevoll auf das Gesicht des Kindes gerichtet. Sie reichte dem Kleinen ihren Zeigefinger, und sogleich griffen die beiden Händchen danach, und das Weinen wurde zu einem verspielten Gurren.
    Mein erster Gedanke war Verwunderung, warum ich nichts vom Nachwuchs im Hause Goethe gehört hatte.
    Doch als Dalberg vom Sessel aufsprang und mit zwei hastigen Schritten zu Christiane eilte, da dämmerte mir, was hier vorging. Und wessen Kind dies war.
    Stiller verbeugte sich knapp vor der Dame, dann trat er neben den Minister und blickte verwirrt auf den Knaben. »Ist das – «, begann er, doch Dalberg unterbrach ihn:
    »Der Prinz, ja, natürlich.« Seine Stimme klang mit einem Mal gelöst. »Verzeihung«, bat er Christiane und machte sich an der Decke zu schaffen, in die das Kindlein gewickelt war. Es gelang ihm, einen strampelnden Fuß freizulegen. »Hier, das Mal!«, rief er aus. »Es besteht kein Zweifel. Der Knabe ist der Erbprinz von Baden.«
    Aufgebracht vor Freude und Erleichterung fuhr er herum. »Aber wie kommt er hierher?«
    Meine Verwirrung war unbeschreiblich. Dalberg glaubte, er verstünde nicht, was hier vorging – was aber sollten da erst Jakob und ich sagen? Wir hatten das Begräbnis des Prinzen gesehen. Hatten beobachtet, wie Stanhope Erde auf das tote Gesicht des Kindes schaufelte. Und nun lag der Prinz in den Armen Christianes!
    Wen aber hatte der Lord draußen im Park verscharrt?
    »Dieses Glück haben Sie unseren beiden Helden zu verdanken«, erklärte Goethe mit Gönnermiene und wies – welch wunderbare Fügung! – auf Jakob und mich!
    Helden?
    Dalberg blickte verwirrt von einem zum anderen, und sogar Stiller schien seinen Rachedurst für den Augenblick zu vergessen. »Wie darf ich das verstehen?«
    »Wir … nun …«, stammelte Jakob.
    Goethe kam ihm eilends zu Hilfe. »Ach, so viel Bescheidenheit! So große Aufopferung! Erlauben Sie mir, Ihnen die ganze Geschichte von meiner Warte aus zu erzählen. Sie wissen, Geschichten sind … mein Steckenpferd, sozusagen. Und Alter bewahrt nicht vor Koketterie.«
    Jakob und ich nickten geschwind, während Dalberg und Stiller immer noch höchst verwundert taten.
    »Erzählen Sie«, bat der Minister schließlich.
    Wieder nahmen wir alle Platz.
    Goethe schenkte Christiane ein Lächeln. »Bitte, bring den Kleinen wieder zu Bett. Wir wollen nicht, dass die Zukunft des Kaiserreichs sich eine Lungenentzündung holt, nicht wahr?«
    Dalberg gab seinen Segen, und Christiane verabschiedete sich und ging.
    »Heute meldete mir meine Dienstmagd den Besuch der ehrenwerten
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