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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels
Autoren: Reginald Hill
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Prolog
    Auszug aus den Aufzeichnungen des verstorbenen Reverends Charles Fabian Cage, Dr. theol., zu einer unvollendeten »Geschichte der Pfarrgemeinde Enscombe«
    N ach herrschender Auffassung werden alle Menschen gleich geboren, doch die Familie Guillemard, seit langem in Yorkshire ansässig, ließ sich, auch ohne dass ihr Name je ins Adelsregister Einlass fand, von derlei philosophischen Spitzfindigkeiten nicht anfechten.
    Den ersten Anflug von Populismus hatte man im letzten Jahrhundert durch Gaben von kaltem Eisen in Verbindung mit einer Brot- und Wasserdiät als nicht weiter ernst zu nehmenden, typisch französischen Bazillus erfolgreich abschütteln können. Auf Dauer freilich erwies sich der Erreger als ziemlich resistent, weshalb er nach dem Weltkrieg epidemieartig das ganze geschwächte, eben erst genesende Land erfasste. In den Dreißigerjahren schließlich beschlich selbst die Guillemards der Verdacht, es könne am Ende gar ihr eigenes Normannenblut befallen sein.
    Und als endlich im Jahre 1952 Selwyn Guillemard, der gegenwärtige Gutsherr, sein Erbe antrat, war er vorbehaltlos bereit, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass an der neumodischen Idee der Menschenrechte am Ende doch etwas dran sein könnte.
    Die Rechte der Frau hingegen bleiben, dessen ungeachtet, ein Thema für Science Fiction.
    Vor etwa dreißig Jahren traf Squire Selwyn das schwere Schicksal, bei einem Autounfall seinen einzigen Sohn und seine Schwiegertochter zu verlieren – ein tragischer Verlust, den er, sosehr ich auch in ihn drang, eher mit heidnisch stoischem Gleichmut als christlicher Stärke zu tragen schien. Auch war es ihm anfänglich von keinem großen Trost, dass seine Enkeltochter, die von da an in Old Hall großgezogen wurde, am Leben blieb.
    Ein Kind, das bei älteren Menschen aufwächst, wird in der Regel entweder frühreif oder introvertiert, und die kleine Gertrude Guillemard ließ kaum Anzeichen von Frühreife erkennen. So schweigsam und zurückhaltend war sie, dass selbst ihr altertümlicher Name ihr eine zu große Last aufzuerlegen schien und man ihn durch das weniger gewichtige Girlie ersetzte.
    Das Enscomber Landgut Old Hall wird natürlich in der männlichen Linie weitervererbt. Die moderne Gesetzgebung hat es leicht gemacht, solch archaische Beschränkungen aufzuheben, doch wie immer er es drehte und wendete, konnte Squire Selwyn in einer solchen Veränderung keinen Vorteil erkennen. Im Rückblick erschien ihm das mahnende Antlitz der Tradition; mit Blick auf die Zukunft war abzusehen, dass der geschrumpfte und weiter schrumpfende Landsitz einer tatkräftigeren, heroischeren Hand bedurfte als seiner eigenen, um ihn vor dem Ruin zu bewahren, und niemand, der Girlie Guillemard als Kind gekannt hatte, wäre auf die Idee gekommen, in ihr eine Heldin zu vermuten. Und so hatte der Squire wenig Skrupel, als er seinen Großneffen Guy zum künftigen Erben bestimmte.
    Seine Frau Edna machte sich Hoffnungen, dass sich die zwei Linien durch eine Heirat von Cousin und Cousine vereinen könnten. Dieser fromme Wunsch war noch lebendig, als Girlie zu einer selbstgenügsamen, gefügigen jungen Frau heranreifte und Guy sich zu einem forschen, überheblichen Privatschüler mauserte, obgleich Guys seltene Besuche in Yorkshire (das er als mega-öde bezeichnete) sowie der Gleichmut, mit dem Girlie seine Abwesenheit hinnahm, eine Frau mit schärferer Beobachtungsgabe zweifellos stutzig gemacht hätten. Dann, kurz nachdem Guy und Girlie volljährig geworden waren und einen Schubs in Richtung Traualtar vertragen hätten, schlug erneut das Schicksal zu, und Edna starb an einem zu spät diagnostizierten Vipernbiss. Wieder hatte ich eine Trauerfeier bei den Guillemards vorzunehmen.
    Nach der Beerdigung lud mich der Squire ein, in seinem Arbeitszimmer mit ihm und den beiden jungen Leuten einen Sherry zu trinken. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, redeten wir eine Weile über die guten Eigenschaften der Verblichenen. Dann nahm der Squire eine große Meerschaumpfeife vom reichlich bestückten Ständer, stopfte sie gemächlich, steckte sie an und schien in Träumereien zu versinken, während sein Blick starr auf der entferntesten linken Ecke des Zimmers ruhte. Endlich nickte er, wandte sich mir zu und sagte: »Edna hätte diese beiden Junkersleut hier gar zu gerne vor dem Traualtar gesehen. Was halten Sie davon?«
    »Die Frage sollte wohl besser lauten, was die beiden davon halten«, erwiderte ich.
    Jetzt kramte auch Guy eine Pfeife,
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