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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels
Autoren: Reginald Hill
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aufzubrechen, wenn er einer Ratte die Zähne in den Hals geschlagen hat, ist nichts gegen die Mühe, einen eingefleischten Yorkshireianer von etwas abzubringen, das es schon immer umsonst gegeben hat. Und so wurde der Abrechnungstag nach und nach zu einer Buffetschlacht, bei der das Einsammeln der Pacht nur ein paar Minuten in Anspruch nimmt, die Erfrischungen und der Klatsch und Tratsch dagegen einige Stunden.
    Von 1986 an führte Girlie die Tradition fort – Girlie, die Herrin von Old Hall, saß fest im feudalen Sattel. Als der Gutsverwalter gehen musste, hatte man im Dorf vermutet, dass Guy der Erbe irgendwann auftauchen würde, um das, was eines Tages ihm gehören sollte, zu hegen und zu pflegen. Aber die Achtziger, die dieses grüne, liebliche Land für einige in ein Jammertal verwandelt hatten, hatte es für andere zu einem einträglichen Freizeitpark gemacht, und Guy der Erbe war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Schnauze tief in den goldenen Futtertrog zu stoßen, um sich über ein heruntergewirtschaftetes, verschuldetes Anwesen im mega-öden Yorkshire Gedanken zu machen.
    Doch die Tage der Säue und der Porsches, sie waren gezählt. Und bereits in den frühen Neunzigern hielten die klügsten Schweinchen, diejenigen, die noch wussten, wie man auf zwei Beinen läuft, soviel Abstand wie möglich zu dem Scherbenhaufen, der von jenem schrecklichen Bild der Vollkommenheit, das sie vergeblich angebetet hatten, übriggeblieben war. Es wäre ein tröstlicher Gedanke, darin eine Bekehrung zu sehen. Doch ach, ich fürchte, sie suchen nur nach neuen Horizonten, die sie verpesten, nach neuem Terrain, das sie ausbeuten können. Ich fürchte, kein Ort ist vor ihnen sicher, nicht einmal das saftige Gras, die saubere Luft, das klare Wasser und die einfache Landbevölkerung im fernen, mega-öden Yorkshire.

Eins
    »Wie schrecklich, wenn so viele Menschen getötet werden! – Und welch ein Segen, dass keiner von ihnen einem nahesteht!«
    E s ist der Tag der Abrechnung. Die Sonne scheint. Die Menschen in Enscombe werden sagen, dass am Tag der Abrechnung immer die Sonne scheint, was soviel bedeutet, dass es nicht viel öfter als ein Dutzend Mal geregnet hat in den letzten zwanzig Jahren. Doch dieses Jahr haben sie recht. Nachdem der März eine Woche lang dem Januar nachgetrauert hat, ist er nun gleich zum Mai vorgeprescht, und selbst im Schatten hängt Blütenduft in der warmen Luft.
    Das Dorf liegt so reglos da wie ein Gemälde – ein englisches Aquarell, an dem der Künstler mit äußerster Konzentration gearbeitet hat, um diesen einen vollkommenen Moment für immer einzufangen. Was für Probleme ihm das bereitet haben muss! Wie soll man, da die Sonne eben ihren Zenit überschritten hat, die nahezu schwarzen Schatten wiedergeben, die sie auf die linke Seite der High Street wirft, ohne den Gebäuden auf der anderen Straßenseite eine falsche mediterrane Helligkeit zu verleihen? Und dann das Problem der Perspektive, etwa am Pub am südlichen Ende des Dorfs, wo die Straße leicht ansteigt; oder hinter dem Postamt, wo sie ein bisschen breiter wird, um Platz zu machen für die sonnenbeschienenen, kopfsteingepflasterten Einfahrten vor dem Buchladen und dem Café gegenüber der im Schatten liegenden Galerie; oder weiter hinten, wo sie plötzlich atemberaubend steil bergauf geht und wo Grabsteine über die hohe Friedhofsmauer lugen, als wollten sie unbedingt sehen, wie es in diesen harten Zeiten den Lebenden ergeht. Auch ist es schwer, den eigentümlich gekrümmten Turm wirklichkeitsgetreu auf Papier zu bannen, ohne dass es einfach nur dilettantisch wirkt. Und dann der eisblaue Wimpel in der Ferne, das einzige, was oberhalb der Baumkette hinter der Kirche von Old Hall zu sehen ist – nimmt man sich nicht besser die künstlerische Freiheit, ihn wegzulassen, um nicht die düstere Moorlandschaft zu stören, die den natürlichen Rahmen bildet?
    Andererseits ist diese blaue Fahne die Erklärung dafür, dass es so still ist im Dorf, denn sie zeigt an, dass der Squire zum Fest der Abrechnung geladen hat. Und, was noch wichtiger ist, denn jeder Stümper kann ein Haus von außen malen, doch nur der wahre Künstler auch das Leben darin andeuten, weist die Flagge darauf hin, dass es hinter diesem Bild regloser Schönheit warmes, pulsierendes menschliches Leben gibt, das sich jeden Moment Bahn brechen kann.
    Jetzt bewegt sich etwas, und das Bild beginnt zu verschwimmen. Eine Frau kommt die schattige Straßenseite heruntergelaufen. Sie
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