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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels
Autoren: Reginald Hill
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er doch unvermindert schnell den Hügel hinauf an der Kirche vorbei.
    Im Eingang der Eendale-Galerie, unmittelbar gegenüber dem Buchladen, blickte eine jüngere Frau mit einem Gesicht so kalt und schön wie eine klassische Statue dem Mann hinterher.
    Als der Motorradfahrer feststellte, dass er kein Einlenken erhoffen durfte, wandte er sich wieder an Dora Creed und sagte: »Dieses Old Hall, das der junge Mann erwähnt hat, haben sie da vielleicht ein Café?«
    Er sah sofort, dass er einen empfindlichen Nerv getroffen hatte. Sie straffte sich und sagte: »Sie haben es öd werden lassen, und nun, da es öde ist, dauert es mich; das ganze Land ist öde, da kein Mensch dafür Sorge trägt.«
    »Da will ich Ihnen nicht widersprechen«, sagte der Motorradfahrer. »Doch irgendwann gibt es wieder Wahlen. Vorerst aber, diese Hall …? Ich bin am Verdursten.«
    Plötzlich lächelte sie mit einem Charme, der dem von Master Guy ähnelte, nur dass ihr seine Findigkeit fehlte, und für einen Moment dachte der Mann, er habe den Wall ihrer Prinzipien gestürmt. Dann sagte sie: »Fahren Sie den Hügel hoch, an der Kirche vorbei. Rechter Hand liegt die Gutsmauer. Nach etwa vierhundert Metern finden Sie ein großes zweiflügeliges Tor mit Pförtnerhaus. Da ist Old Hall.«
    »Allerbesten Dank«, sagte der Fahrer.
    Er setzte sich seinen Helm wieder auf, warf den Motor an und fuhr in gemächlichem Tempo die High Street hinauf.
    Die Kirche, die auf der ersten Ebene des nördlichen Hangs lag und das Dorf beherrschte, besaß eine Eigentümlichkeit, die manch anderen dazu gebracht hätte, anzuhalten und genauer hinzuschauen. Der Turm sah aus, als liege er mit dem Hauptschiff im Streit, und neigte sich in einem Winkel von ihm weg, der für das nüchterne Auge irritierend, für den trunkenen Blick vermutlich aber geradezu beängstigend wirkte. Doch dem Motorradfahrer stand nicht der Sinn nach architektonischem Zeitvertreib. Eine Tasse Tee war alles, was er wollte, und er hegte gewisse Zweifel, ob in den Dörfern von Yorkshire noch die ehrwürdige Tradition kirchlicher Gastfreundschaft gepflegt wurde.
    Hinter der Kirche erhob sich, wie von Miss Creed versprochen, eine hohe Einfriedungsmauer, die dem gewöhnlichen Sterblichen den Blick verstellte. Nach einer Viertelmeile allerdings wies ein großes Schild darauf hin, dass Enscombe Old Hall jeden Moment in Erscheinung treten würde, was darauf schließen ließ, dass der Blick des gewöhnlichen Sterblichen mittlerweile doch nicht gar so unerträglich war.
    Ein Stück weiter wurde die Mauer von einem wuchtigen Torbogen aus Granit unterbrochen, der eines Palastes würdig gewesen wäre. In den Schlusstein des Bogens war ein Vogel eingemeißelt, dessen langer, dünner Hals auf einem heraldischen Schild ruhte. In den Ecken des Schildes wiederum waren jeweils eine Rose, ein sinkendes Schiff, ein mit erhobenem Kopf liegender Windhund und ein Motiv angebracht, in dem das unkundige Auge des Motorradfahrers ein Dromedar ausmachte, das an einen Weihnachtsbaum pinkelte. Unter diesem obskuren Familienwappen standen die nicht minder rätselhaften Worte:
Fuctata Non Perfecta
.
    Zum Ausgleich hingen an den Torpfeilern Schilder, deren Inhalt an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ und die – in Schriftart und Farbgebung für den flüchtigen Blick der Vorüberfahrenden entworfen – auf Old Halls verlockende Angebote aufmerksam machte.
    Für läppische 5,50 Pfund durfte man dieses befestigte Herrenhaus aus der Tudorzeit, seit dem sechzehnten Jahrhundert im Besitz der Familie Guillemard, besichtigen. Für gerade mal 2 Pfund erwarb man sich die Befugnis, das weitläufige Gelände zu erkunden (außer, es war die rote Flagge gehisst, die anzeigte, dass es für »Gefechte« benutzt wurde – Einzelheiten auf Anfrage). Schließlich konnte sich der Besucher, der für Gefechte, Besichtigungen und Spaziergänge zu gebrechlich war, in der neuen Holistischen Wellnessfarm, die im renovierten Stalltrakt untergebracht war, behandeln und kurieren und sich mit Akupunktur, Fußzonenreflexmassage, Aromatherapie, metaplastischer Massage und therapeutischer Telepathie verwöhnen lassen.
    Ein einziges Wort in diesem reichhaltigen Menü blieb bei dem Motorradfahrer haften:
Erfrischungen
. Indem er sich strikt an das Schrittempo hielt, das ein weiteres Schild vorschrieb, fuhr der Mann durch den Bogen in eine grünlich bemooste Kieseinfahrt, die sich zwischen zwei hohen, mit wuchernden Rhododendren bewachsenen Böschungen
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