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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels
Autoren: Reginald Hill
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ein Stück aus blitzendem rostfreiem Stahl, hervor, zog die Tabakdose zu sich heran und widmete sich ebenso ausgiebig wie zuvor der Squire der Aufgabe, sie zu stopfen und anzustecken, bevor er das Wort ergriff: »Ich glaube, ich bin noch ein bisschen zu jung, um ans Heiraten zu denken, Squire. Aber in ein paar Jahren, wer weiß? Bis dahin wäre es mir lieb, wenn wir die Angelegenheit als stillschweigende Übereinkunft betrachten könnten.«
    Dann setzte er sich in seinem Sessel zurück und lächelte selbstzufrieden über sein vermeintliches diplomatisches Geschick.
    Der Squire sah Girlie an. Bedächtig langte sie nach vorn und nahm sich ein kleineres Exemplar aus dem Pfeifenständer. Langsam stopfte sie den Kopf mit dem Tabak aus der Dose des Squires, langsam zündete sie ihn an. Zufrieden lehnte sie sich schließlich im Sessel zurück und rauchte mit Kennermiene ein paar Züge. Endlich sagte sie: »Was mich betrifft, so würde ich eher ein tollwütiges Stachelschwein vögeln. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muss mich ums Mittagessen kümmern.«
    Als sie das Zimmer verließ, nahm sie die Pfeife mit. Was zunächst eine Geste war, wurde bald zu einem Symbol und schließlich, leider Gottes, zu einer Sucht. Und es gab noch andere Veränderungen. Girlie trennte sich von sämtlichen Laura-Ashley-Kleidern, die ihr nach Meinung ihrer Großmutter so gut standen (sie warf sie allerdings nicht weg, denn nicht wenige tauchten kurze Zeit später, als Frances Harding in Old Hall einzog, wieder auf), und fing an, an Wochentagen Jeans und Gummistiefel zu tragen und schlichtes Schwarzweiß zu gesellschaftlichen Anlässen. Ihr langes Haar im Stil von Alice im Wunderland wurde zu einem Helm ungestümer Locken gestutzt, und es dauerte nicht lange, bis in Enscombe die unerschöpfliche Diskussion über die Frage, wer das Haus nun eigentlich führte, sich von selbst erledigte, da Old Hall ganz offensichtlich eine eindrucksvolle Herrin gefunden hatte.
    Es gab noch einen Gutsverwalter, der formal unter der Aufsicht des Squires stand, doch letzterer, seit dem Verlust seines Sohnes nie wieder ganz der Alte, zog sich nun noch mehr in die Rolle des Exzentrikers zurück. Die Aufgabe, die Bücher zu prüfen, fiel bald Girlie zu. Das war in den verrückten Achtzigern, als Psychopathen zu Therapeuten wurden und die Gesellschaft nach ihrer eigenen Vorstellung von Vollkommenheit umzuformen begannen, ganz ohne Narkose. Der Verwalter, ein Mann namens Trevor Hookey, erwies sich bald als glühender Thatcher-Anhänger, der mit fanatischem Eifer brüllte: »Was dich nicht umbringt, macht dich nur hart!«, und Girlie stolz versicherte, das neue, verjüngte und verschlankte Gut von Old Hall sei das äußerst effiziente Modell der Zukunft.
    Einige Jahre lang hörte sich Girlie die liturgischen Formeln höflich an. Als schließlich bei der Jahresabrechnung von 1986 ihre Rechenmaschine quietschend den kümmerlichen Endbetrag auswarf, unterbrach sie den Fanatiker mit den Worten: »Es reicht. Ich habe die Zukunft gesehen, und sie ist Scheiße. Wir sind nicht verjüngt und verschlankt, wir sind ausgezehrt und kurz vor dem Ende. Es bleibt uns nur
eine
große Sparmaßnahme übrig.«
    »Und die wäre, Schätzchen?«, fragte Hookey herablassend.
    »Ihr Gehalt«, sagte Girlie Guillemard.
    Diese Abrechnungen finden übrigens alljährlich an Mariä Verkündigung statt, das heißt am 25. März, der in England Zahltag ist und an dem in Enscombe seit undenklichen Zeiten, zumindest aber seit 1716, alle Rechnungen beglichen werden. Dass diese Tradition überlebt hat, zeugt von der Beharrlichkeit der Menschen in Yorkshire. Den größten Teil der Zahlungen an den Squire bildeten natürlich die Pachteinkünfte. Old Hall verfügte immer noch über ausgedehnte Ländereien, und obwohl die allgemeinen Sitten verroht waren, besaß man genügend Anstand, den Pächtern eine Erfrischung anzubieten, bevor sie wieder nach Hause fuhren.
    Doch im Lauf der Jahre, schon vor den schrecklichen Achtzigern, ging die Gutsführung zu vertraglichen Vereinbarungen über, die Straßen wurden besser und Goldmünzen unter den Fußbodendielen wichen Papiergeld auf der Bank, bis Schecks und Girokonten und Daueraufträge das physische Einziehen der Pacht praktisch überflüssig machten. In jeder anderen Grafschaft hätte dies das Ende des Zahltags bedeutet, von den Erinnerungen einiger Graubärte und den Annalen der Antiquare einmal abgesehen. Doch einem Yorkshireterrier das Gebiss
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