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Verlieb dich nie nach Mitternacht

Verlieb dich nie nach Mitternacht

Titel: Verlieb dich nie nach Mitternacht
Autoren: Liza Kent
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Das Spiel
    Es war die Zeit, als Mitgard, die Welt der Menschen, von Göttern beherrscht wurde. Sowohl im Norden als auch unter Mitgard lag das Totenreich Hel.
    Gelangweilt ließ Wodan, Gott der Toten, die Reihe der Verstorbenen auf dem Weg nach Hel an sich vorbeiziehen: im Kampf getötete Krieger, Frauen, die bei der Niederkunft ihrer Kinder gestorben waren, die wenigen Alten, denen es vergönnt gewesen war, daheim, im Kreis ihrer Familien, sanft einzuschlafen. Wodan brauchte nicht mehr hinzusehen, um den Ausdruck in ihren Gesichtern beschreiben zu können, der allen gemein war.
    Das Entsetzen. Die Ungläubigkeit.
    War das Leben tatsächlich bereits wieder vorbei?
    Wodan seufzte und nahm dankbar die Pfeife Hanf entgegen, die Freyja, die Liebesgöttin, ihm mit verheißungsvollem Lächeln überreichte. Bis hinab zu den Germanen hatte es sich herumgesprochen, dass der Hanf die Blume der Liebesgöttin war, weil sie, richtig dosiert und genossen, die Sinne erregte.
    Das Rauchen würde Wodan helfen, die traurige Prozession der sich dahinschleppenden Toten im Geiste wohlbehalten zu überstehen – und neue Energien für Freyja, seine Geliebte, würde es außerdem freisetzen.
    Er stutzte, als seine Gedankengänge jäh vom unnachgiebigen Gezanke einiger Kinderstimmen unterbrochen wurden. Erstaunt hob er den Blick.
    Vor ihm stand ein kleiner Junge, den Wodan auf nicht mehr als sechs Jahre schätzte. Aus strahlend blauen Augen unter wirren, hellen Haaren blickte er herausfordernd zu ihm auf, als es für ihn an der Reihe war vorzutreten. Keine Sekunde ließ er dabei die Hand des Mädchens los, das neben ihm stand. Ein niedliches kleines Ding mit kugelrunden steingrauen Augen und dunkler Lockenpracht, das Wodan skeptisch musterte. Als stände er hier auf dem Prüfstand und nicht das Mädchen selbst. Überrascht vermutete Wodan, Wotan oder Odin, wie andere ihn nannten, dass das Kind in der Familie bereits Erfahrung mit dem Tod naher Angehöriger gesammelt hatte. Anders konnte er seine Furchtlosigkeit jedenfalls nicht erklären.
    »Wer ist die Kleine?«, wandte er sich an Freyja, die eine Liste mit Namen vor sich liegen hatte.
    »Sie heißt Mari. Ihre Mutter kam vor zwei Jahren bei einem Überfall auf ihr Dorf ums Leben. Sie wuchs danach bei einer ihrer Tanten auf.«
    Wodan beugte sich zu dem Mädchen vor. »Und warum bist du hier? Warst du krank?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf, dass die Locken flogen. Als es den Mund öffnete, um zu antworten, kam ihm der Junge mit der blonden Strubbelmähne zuvor. »Sie ertrank im tiefen Wasser, weil sie mich retten wollte. Der da hatte mir unbemerkt Seile an die Füße gebunden!« Anklagend wies er mit dem Finger auf ein drittes Kind.
    Der Junge, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, schnellte nun nach vorne. »Das ist nicht wahr! Wenn Bru nicht diese dumme Wette vorgeschlagen hätte …«
    »Ihr habt gewettet?« In Wodans Augen blitzte es amüsiert auf. Die Kinder hatten es nun endgültig geschafft, sein Interesse zu wecken.
    Doch alle drei schwiegen plötzlich verstockt. Der brünette Junge, der zuletzt gesprochen hatte, presste die Lippen fest zusammen.
    »He, ihr drei! Raus mit der Sprache! Was habt ihr angestellt?«
    Die beiden Jungen musterten sich in stummer Zwiesprache, unschlüssig, wie viel sie erzählen durften, ohne eine Bestrafung zu riskieren.
    »Also gut, ich sag’s«, erklärte schließlich der blonde und offensichtlich Wagemutigste. Was sollte ihnen auch noch geschehen? Tot waren sie bereits. »Voki und ich haben um Mari gewettet. Derjenige, der am längsten ohne Luft zu holen unter Wasser bleiben kann, darf sie später zur Frau nehmen.«
    »Eine Liebesgeschichte, wie schön!« Neben Wodan klatschte Freyja begeistert in die Hände. Doch irritiert zog sie im nächsten Moment die Augenbrauen zusammen. »Aber …«, wandte sie sich an Voki, dem man ansah, dass ihm nicht wohl war in seiner Haut, » …aber wenn du ihm Seile an die Füße bindest, hilfst du ihm doch, die Wette zu gewinnen.«
    Der Junge knetete seine Finger. »Nicht, wenn er nie mehr auftaucht. Dann muss Mari mich nehmen, weil ich der Einzige bin, der übrig ist.«
    Das Mädchen schnaubte verächtlich durch die Nase.
    »Pfui, Voki! Was für ein niederträchtiger Plan. Dafür hast du wahrlich den Tod verdient!« Empört sprang Freyja von ihrem Sitz auf.
    Wodan hingegen lachte gutmütig. »Reg dich nicht auf, meine Liebe. Er ist noch ein Kind, ein kleiner Junge. Was ihm fehlt, ist die richtige
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