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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman
Autoren: Susanne Betz
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Kapitel 1
    A ls sie den Riegel der kleinen, eisenbeschlagenen Tür zurückschob und ins Freie schlüpfte, donnerte es zum zweiten Mal.
    Der Morgen, der Charlotte aus dem Obstgarten entgegenschlug, roch alt und sumpfig. Der Sommer hatte heiß begonnen und war so geblieben. Tag für Tag schob sich die scharfkantige Metallscheibe über den Himmel und machte das Gras welk und Tiere und Menschen müde. Alle sehnten sich nach Regen. Ab der ersten Augustwoche stockte dann jeden Tag die Nachmittagsluft wie schlechte Milch. Sie stand ungenießbar und sauer über dem Land, und die Sonne dahinter schien nur noch schmierig durch. Sonnenuntergänge gab es nicht mehr. Die Nacht floss in diesen zähen Brei hinein und färbte ihn dunkel. Es kühlte auch nicht mehr ab. Aber bislang hatte es nie zu einem Gewitter gereicht.
    Birnen, Äpfel und Pflaumen fielen vorzeitig von den Bäumen und faulten, wenn sie nicht gleich von Wespen aufgefressen wurden. Niemand machte sich auf dem Geispitzheimer Anwesen die Mühe, das Obst aufzuheben und zu verkochen. Zweige schwer mit Früchten beugten sich in das hohe Gras. Im Obstgarten wurde auch nur noch selten gemäht. Charlotte hatte diesen ganzen schwülen Sommer über die Atmosphäre beobachtet. Türmten sich Wolken auf? War irgendwo in der Umgebung ein Blitz in einen Kirchturm gefahren oder eine Scheune in Brand geraten? Doch der Himmel hatte sich immer verweigert. Bis jetzt.
    In der linken Hand trug Charlotte ein Paar Pantoffeln, unter ihrem rechten Arm klemmte ein Drachen. Sie hatte ihn aus schmalen Holzleisten und dünnem, jadegrünem Papier selbst gebaut. Um die Schnur, die an seiner unteren Spitze befestigt war, hatte sie einen feinen Silberdraht gewickelt. Den zu besorgen, war das Schwierigste gewesen. Aus Angst, jemand könnte sie hören, lief Charlotte immer noch barfuß. Bis sie auf einen scharfkantigen Stein trat. Oder war es ein Tier, das sie gestochen hatte? Charlotte blieb stehen, verrieb Spucke auf die schmerzende Stelle und blickte zum Himmel.
    Im Osten, Richtung Rhein, verbreiterte sich zusehends das hellgraue Band des Morgens. Das Gewitter kam aus dem Westen. Geballte Wolken, dunkel, aneinandergepackt wie Weintrauben, hingen tief, dazwischen schoben sich immer wieder für kurze Zeit senfgelbe Schwaden durch. Charlotte sah auf die Entfernung schlecht und kniff gewohnheitsgemäß die Augen zusammen. Noch eine halbe Stunde, mehr nicht, so schätzte sie, war das Gewitter entfernt. Ein staubiger Wind fuhr in ihre Röcke, blähte sie auf und verschwand, so schnell er gekommen war. Irgendwo klapperten Fensterläden, ein vergessener Eimer fiel scheppernd um. Niemand würde wissen, dass sie fort war und was sie vorhatte.
    Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln. Zierlich, französisch, aus champagnerfarbener Seide, mit Gänseblümchen bestickt, wie so vieles getragen von der Mutter und dann in einem sentimentalen Moment an sie weitergegeben. Die Mutter! Charlotte seufzte. Der nächste Donner, nach ihrer Zählung schon der vierte, knurrte. Ziemlich nahe sogar. Charlotte rappelte sich hoch wie ein ertapptes Kind. Sie fand sofort den kleinen Abschnitt in der Mauer um das Grundstück, wo die obersten Ziegel herausgebrochen waren und die nächstunteren sich leicht herausklopfen ließen. Mit ein wenig Mühe, einem abgebrochenen Fingernagel und aufgeschürften Waden schaffte sie es hinüber. Immer auf den einzigen großen Berg weit und breit zugehend, der sich mit seinem dunkelgrünen Fell zu einem ausgewachsenen Katzenbuckel wölbte. Charlottes Pantoffeln schlurften durch borstige Stoppelfelder, Strohhalme rissen Fäden aus den hübschen Stickereien, ein Streifen ihres Unterrocks blieb in den unteren Zweigen eines Weißdornbusches hängen – als kleine, weiße Markierung im trüben Licht. Zwischen einem Holzstoß blitzten die bernsteingelben Augen eines Fuchses auf, der, obwohl die Nacht vorüber war, noch herum streunte. Warum leuchteten seine Augen und die der Menschen nicht?
    Charlotte verscheuchte diese Frage und bog auf die staubige Landstraße Richtung Kaiserslautern ein. Jetzt kam sie schneller voran. Der Drache ließ sich erstaunlich leicht tragen. Eine Viertelstunde im Laufschritt, dann tauchte in der Kurve auch schon der Gekreuzigte unter seinem spitzgiebeligen Holzdach auf. Aus Gewohnheit beugte Charlotte das rechte Knie, im Vorbeieilen warf sie ihm noch eine Kusshand zu. Hoffentlich traf ihn kein Blitz.
    »Ich bin Atheist«, hatte ihr Felix mit belegter Stimme gesagt, nachdem sie sich
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