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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman
Autoren: Susanne Betz
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verschlang, neuerdings so viel von unveräußerlichen Naturrechten und der Freiheit des Individuums die Rede war, so konnte man das alles doch nur als Ableitungen vom Menschsein sehen. Möglicherweise. Aber nicht als Beleg dafür, dass es sie, Charlotte, auch tatsächlich gab.
    Angespannt schaute sie in den Himmel. In dem Moment zuckte wieder ein Blitz und schnitt diagonal in die dunkle Wolkenwand einen gleißend hellen Spalt, hinter dem sich ein neuer Himmel und sonst alles Mögliche vermuten ließen. Je mehr sie mittels Versuchsergebnissen demonstrieren konnte, dass diese durch einen Jemand gemacht worden waren, und dieser Jemand sie selbst war, desto eindeutigere Rückschlüsse ließen sich auf ihre Existenz ziehen. Charlotte fror. Der Wind war zwar nicht kalt, aber je länger sie so dastand im dünnen Kleid, desto mehr zerrte er an ihr. Umgekehrt galt also, dass sie immerzu suchen und forschen musste.
    Charlottes Blick ließ die Gewitterwolken los und wanderte zu dem großen Berg hinüber. Massig ragte er aus dem sonst eher sanft geschwungenen Land heraus. An seinen Hängen klebten kleine unregelmäßige Muster, fleckige Weiler, trapezförmige Rodungen, dunkel narbig zwischen dem dunstigen Grün. Ihr Vater schlief sicher seinen Rausch aus. Wie jeden Morgen würde Charlotte dann später ihren gezuckerten Haferbrei in der Küche vorfinden, warmes Bier auch, wenn sie wollte, und die Mägde, vor allem Lisbeth, würden mit ihr scherzen, von ihren Rückenschmerzen, Kindern und Liebschaften erzählen. Wen gab es noch? In Mannheim wollte eine Großmutter, die drei Mal verwitwet war, sie möglichst reich verkuppeln. Im Kirchheimer Schloss wartete Felix. Und ihre Mutter. Die darauf spekulierte, dass, wenn sie zu alt wurde, die Tochter sie in ihrer Position als Mätresse ablösen würde. Ein eleganter, nein, ein gnädiger Übergang, alles bliebe wie immer. Mit langen Gabeln Mark aus den Knochen löffeln, Rätsel raten, kandierte Kirschen knabbern, bisweilen ein lausiges Konzert hören, Karten legen, darauf warten, dass der pfälzische Kurfürst zu Besuch kam, hundert Gulden in einer Nacht verspielen. Wenn alles gut ging, sorgte eine unmögliche Liaison für Gesprächsstoff bis in den Winter. So brachte man die einzelnen Tage und das ganze Leben schon irgendwie herum.
    Aber so, da machte sich Charlotte nichts vor, dünnten die Einfälle in ihrem Kopf aus, das ließ sich nicht vermeiden. Wie sollte sie da noch ernsthafte Wissenschaft betreiben? Und die Elektrizität und sich selbst beweisen? Ihr Dahinscheiden durch schiere Langweile und Verblödung stellte sich Charlotte sehr gern vor. Sie saß dabei in einem vanillefarbenen Sessel. Mit einem Mal hätte ihr Kopf keinen Halt mehr und würde sanft umknicken wie der Kopf einer Tulpe, während Geheimrat von Sickingen und Baronin Frischleben wieder einmal darüber stritten, wer wen beim Kartenspiel betrogen hatte. Man lässt sie sofort zur Ader, hält ihr Riechsalz unter die Nase und schließlich einen Spiegel vor den Mund. Bei Feststellung des Todes würde umgehend eine Ode an das talentierte Fräulein von Geispitzheim in Auftrag gegeben. Felix würde heimlich mehr denn je über den legitimen Tyrannenmord lesen und sicher einen Strumpf von ihr als Lesezeichen zwischen die Seiten legen. Aber was bliebe sonst von ihr übrig?
    Charlotte lachte hell auf, und für einen winzigen Moment übertönte sie damit den Wind. Sie hatte also beschlossen, nicht in einem vanillefarbenen Sessel zu sterben. Stattdessen hatte sie sich von Herrn von Sickingen Orangenscheiben zwischen die Lippen schieben lassen, einmal nach seinem Finger geschnappt, zwei Gläser Moselwein getrunken, dem Fürsten mutwillig zugezwinkert, aber ihre Überlegungen zur Elektrizität wieder auf die Folterbank gespannt und gestreckt. Immer wieder.
    Wenn das elektrische Fluidum also per Hand aus bestimmten Materialien herauszuholen war, dann stellte sich erstens die Frage, wie es da hineingekommen war. Oder zweitens, ob es nicht vielleicht schon immer dort war. Falls diese Vermutung, worauf vieles hindeutete, stimmte, dann … Lange Zeit schaffte Charlotte es nicht, diesen Gedanken weiter zu denken. Vielleicht bestand ja die ganze Welt einerseits aus der sichtbaren Materie, die den Gesetzen der Gravitationslehre des Herrn Newton gehorchte, und andererseits der unsichtbaren Elektrizität, die ganz anders funktionierte? Man wusste noch nicht, wo sie überall auftauchte und in welcher Erscheinungsform. Wasser gab es schließlich
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