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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman
Autoren: Susanne Betz
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Magergras und Resten von Schafskost mitten auf der höchsten Erhebung, dort, wo Mauerreste einer vor Urzeiten geschleiften Burg als tote Adern übrig waren und sich langsam in grünbemooste Vegetation verwandelten. Die Wolkentrauben hingen ihr fast schon in den Mund. Das Morgenlicht aus dem Osten kam nicht mehr gegen das Gewitter an. Charlotte roch etwas, das sie an schlecht ziehende Kamine erinnerte. Sie legte den Drachen auf den Boden und beschwerte ihn mit einem flachen Stein. Fiebrig schnell zogen ihre Finger den Silberdraht entlang der Schnur glatt. Auf diesen Moment hatte sie Wochen und Monate gewartet, seit sie die »Philosophical Transactions« der Royal Society mit Stephan Grays Aufsätzen in dem Bücherpaket aus Frankfurt zusammen mit der Übersetzung von Robinson Crusoe entdeckt hatte, das der Fürst im Schlafzimmer ihrer Mutter vergessen hatte.
    Gray zitierte zunächst viel aus Gilberts »De magnete«. Ungeduldig hatte sie die ersten Seiten überflogen, dann genervt, denn die Ausführungen brachten ihr nichts Neues. Immerhin hatte sie schon vor zwei Jahren einen faustgroßen Klumpen Bernstein aus dem Nassau-Weilburger Raritätenkabinett mitgehen lassen. Ohne Gewissensbisse. Er verstaubte eh nur zwischen geschnitzten Madonnen aus lachsfarbenen Korallen und verwachsenen Katzenföten, eingelegt in Spiritus. Zu Hause in ihrem Zimmer hatte sie ihn ausdauernd an ihrem Rock gerieben und immer wieder aufs Neue beobachtet, wie Papierschnipsel, Wollfäden oder Hühnerfedern sich aus einer gewissen Entfernung zu dem Bernstein hin bewegten. Sie rieb wieder, schob die Federn dann ein kleines Stück weiter weg, sie taumelten kurz hoch, wurden aber nicht mehr angezogen. Der Abstand durfte also nicht zu groß sein. Und was, wenn sie weniger rieb? Charlotte hielt die Luft an, um dem Versuch nicht zu schaden. Aber das Einzige, was sich bewegte, war silbern glitzernder Staub in der Luft. Dann bearbeitete sie den Bernstein wieder heftig und zack zack, die Wirkung stellte sich erneut ein. Magie? Eine unbekannte Mechanik? Mechanik aber brauchte unmittelbaren Kontakt. Hier vollzog sich aber so etwas wie berührungslose Berührung. Aber warum bei Bernstein? Nur bei Bernstein? Diese Fragen waren der Anfang ihrer Experimente. Denn Gray beschrieb in seinem Buch ein neues Element, das unsichtbar, schnell und sehr flexibel war und das in der Welt häufiger vorhanden war, als man dachte. Elektrizität.
    Felix musste ihr weitere englische Bücher besorgen. Atemlos las sie als nächstes Grays Versuch mit einem kleinen Waisenjungen, der an dünnen Schnüren befestigt, irgendwo in England von einer Zimmerdecke baumelte. Gray elektrisierte ihn mit einem geriebenen Glasrohr, und prompt zog auch das Kind kleine Gegenstände an. Als nächstes verlangte Charlotte die »Histoire de l’électricité« eines gewissen Monsieur Dufay, des ehemaligen Intendanten der Königlichen Botanischen Gärten in Paris. Auch wieder unbedingt und jetzt gleich. Felix zögerte, denn er hatte Angst, der Fürst könnte von diesen kostspieligen Bestellungen Wind bekommen, und wurde schwierig. Also schlief Charlotte mit ihm. Das half wie immer, und Felix orderte und vertuschte.
    Ihr rechter Pantoffel riss an der Spitze auf. Mitten durch eine gestickte Blume hindurch, drei Zehen schauten heraus. Das passierte, als sie auf ihrem Höhenplatz kurz in die Hocke ging, um zu pinkeln. Dann bohrte sie einen Zweig, den sie unterwegs abgebrochen hatte, in die Erde, wickelte das lose Ende der Drachenschnur samt Silberdraht herum und verknotete alles gründlich. Vorsichtig und liebevoll, als wäre es der Schoßhund ihre Mutter, übergab sie den Drachen der Thermik. Aber schon die nächste rasante Böe drückte ihn zu Boden, sodass das gespannte Papier über das stopplige Gras schrappte, eine der dünnen Leisten verbog sich leicht. Erschrocken beugte sich Charlotte über seine Libellenflügel, hob ihn auf und drückte ihn ziemlich ratlos an die Brust. Der Wind war zu stark.
    Das Gewitter ballte sich jetzt unmittelbar über ihr, und Donner krachten wie Gewehrsalven. Auch geblitzt hatte es schon hier und da. Während der ganze Himmel einen Moment lang magisch grün aufleuchtete und es fast taghell wurde, schoss ihr durch den Kopf, dass jeder neue Beweis der elektrischen Wirkungsweise als Beleg für ihre eigene Existenz dienen konnte. Sich selbst schlüssig und unwiderlegbar zu beweisen war ohnehin das größte Problem. Auch wenn in den Büchern, die Felix wie Butterkuchen
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