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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman
Autoren: Susanne Betz
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auf der Erde sowohl in flüssiger als in gefrorener Form, aber auch als Dampf. Elektrizität, hatte Charlotte plötzlich eines Abends, als der Fürst gerade aus seinem italienischen Reisetagebuch vorlas, vor sich hin gemurmelt, Elektrizität wird in Funken sichtbar, das haben viele Wissenschaftler beschrieben. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.
    Seitdem waren Wochen vergangen. Jetzt waren kein eitler Fürst, keine vertrottelten Hofdamen mehr da, die sie störten. Jetzt stand sie allein auf der Anhöhe über Bolanden mit einem Drachen, auf Augenhöhe mit dem Donnersberg und einem furiosen Gewitter. Das einzige bisher in diesem Sommer und unter Umständen das letzte. Sie musste es nutzen. Sie hatte alles gründlich vorbereitet, alles dabei, was sie für ihr Experiment brauchte, und in den vergangenen Wochen viel über das Wesen von Gewittern nachgedacht: Dunkle, schwere Wolken konnten möglicherweise als riesige Reibekörper funktionieren. Blitze zündeten alles an, was brennbar war. Feuer wiederum entstand aus Funken, also gab es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Blitzen und Elektrizität. Aber dieses neu entdeckte Element war gefährlich. Unter Umständen tödlich. Angst, so sagte sie sich, musste sie aber nicht vor dem Wagnis haben, sondern nur vor dem Sterben in vanillefarbenen Sesseln. Trotzdem war ihr mulmig zumute. Die Schnur war noch immer fest mit dem Stock verbunden, der Stock steckte noch gut im Boden. Es musste jetzt sein. Jetzt. Sie musste es ausprobieren. Schlimm genug, dass es so vieles gab, was sie noch nicht ausprobiert hatte.
    Gleichmäßig und zügig stieg der Drachen. Die Libellenflügel gewannen Höhe, das Jadegrün sah unwirklich schön aus gegen das diffuse Licht aus beginnendem Morgen und Gewitterleuchten. Als dann auch noch die Konturen der großen düsteren Wolken durch das dünne Papier schimmerten, kam ihr der Drache wie die stolze Brokatfahne bei einer Fronleichnamsprozession vor. Ellenweise gab sie Schnur nach. Der Wind war dem Drachen diesmal wohlgesonnen und trug ihn weiter, ohne dass er zu sehr zappelte. Charlotte stand kerzengerade und ließ ihn nicht aus dem Auge. Ihr Herz pochte bis in den Hals hinauf. Sie fror auch nicht mehr. Stattdessen hörte und sah sie erstaunlicherweise deutlicher als je zuvor in ihrem Leben. Obwohl sie doch so kurzsichtig war, dass sie den Fürsten von Weitem manchmal mit seinem reizenden Kutscher verwechselte, der sie hin und wieder heimlich durch die Gegend fuhr. Einmal bis nach Mannheim, wo sie sich dann allein umgeschaut und ein Kaffeehaus besucht hatte.
    Eine Krähe schrie auf. Scharf und laut. Sie flatterte knatternd an ihr vorbei wie der Reifrock ihrer Mutter, wenn diese ein Gespräch für beendet erklärte. Die schmalen Holzleisten ihres Drachens konnte sie zu ihrer Verblüffung einzeln zählen. Und erst die Wolken! Trugen sie Unterröcke? Fasziniert betrachtete Charlotte die Spitzenmuster an ihren Rändern, die innerhalb von Sekunden neu geklöppelt und an einer Stelle gelb und an der anderen in der Farbe reifer Auberginen gesäumt wurden. Der Himmel war in Aufruhr und erfand sich jeden Augenblick neu. War es so an den ersten Tagen der Schöpfung zugegangen, als sich Wasser und Land getrennt hatten und die Elemente zu wirken begannen? Charlotte staunte. Über das fulminante Schauspiel über ihr und die vielen noch unerforschten Geheimnisse, die in dem schnellen Wechsel von Farben, Blitzen und Donner lauerten. Das war heute ihr Himmel. Das war die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatte.
    Aber sie staunte auch über sich selbst. Ihre Haut war auf einmal so dünn und durchlässig, dass sie alles um sich herum spürte. Sie schluckte gierig den schwefeligen Geruch der Blitze, und zwischen ihren Haaren sammelte sich feiner Sand, den der Wind von weit her mitgetragen hatte. Wenn sie fünf Tassen türkischen Kaffee getrunken hätte, hätte sie sich nicht wacher gefühlt. Sie genoss diesen Zustand, kostete ihn aus und wollte ihn nie wieder verlassen müssen. Warum hatte sie nicht früher schon alles so überdeutlich erlebt?
    Das Netz, das plötzlich über sie fiel, sah sie trotzdem nicht. Nur dass sie aufschrie, hörte sie. Augenblicklich legten sich Spinnweben über ihr Gesicht, in ihren Ausschnitt, auf ihre nackten Arme. Charlotte spürte sie aber auch sofort unter dem Stoff ihres Kleides, auf ihrem Bauch, ihrem Busen, ihren Schenkeln. Unentwegt kribbelnd, fast stechend, aber unsichtbar. Sie wischte, schlug mit den Händen danach, versuchte,
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