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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht
Autoren: Arnaldur Indridason
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Eins
    Sie konnten zwar schätzen, wie alt er war, doch weitaus schwieriger war es, festzustellen, aus welchem Teil der Welt er stammte.
    Sie gingen davon aus, dass er etwa zehn Jahre alt war. Er trug einen grauen Kapuzenanorak, der offen stand, und eine Hose in grünen und braunen Tarnfarben, die an Militäruniformen erinnerte. Auf dem Rücken hatte er einen Schulranzen. An einem Fuß fehlte der Stiefel, und sie sahen, dass in der Socke ein Loch war. Ein Zeh lugte heraus. Der Junge hatte weder Handschuhe noch Mütze an. Sein schwarzes Haar war bereits am vereisten Untergrund festgefroren. Er lag auf dem Rücken, mit dem Gesicht zur Seite gedreht, die gebrochenen Augen schienen auf den Boden zu starren. Die Blutlache unter ihm war schon fast zu Eis geworden.
    Elínborg kniete bei der Leiche nieder.
    »Großer Gott«, stöhnte sie, »was geht in dieser Stadt eigentlich vor?«
    Sie streckte die Hand aus, als wolle sie die Leiche berühren. Es hatte fast den Anschein, als habe sich der Junge dort zum Schlafen hingelegt. Der Anblick setzte ihr zu, sie schien nicht wahrhaben zu wollen, was sie sah.
    »Nicht anrühren«, sagte Erlendur ruhig. Er und Sigurður Óli standen neben der Leiche.
    »Ihm muss kalt gewesen sein«, murmelte Elínborg und zog ihre Hand zurück.
    Es war Mitte Januar. Bis zur Jahreswende war der Winter erträglich gewesen, aber dann hatte die Kälte mit voller Wucht eingesetzt. Wie eine eisige Faust hielt sie die Erde umklammert, während der Nordwind um das Gebäude heulte und pfiff. Der Schnee stob über den Boden dahin und hatte sich hier und da zu kleinen Wehen angehäuft, von denen der oberste und feinste Schnee weitergeblasen wurde. Der Wind kam direkt vom Nordpol und war schneidend kalt, er drang bis unter die Kleidung und ging durch Mark und Bein. Erlendur schauderte und vergrub die Hände in den tiefen Taschen seines Wintermantels. Der Himmel war schwer verhangen, und obwohl es erst kurz nach vier war, wurde es bereits dunkel.
    »Warum werden solche Militärhosen für Kinder hergestellt?«, fragte er.
    Sie standen dicht bei der Leiche. Das Blaulicht der Streifenwagen zuckte über den Wohnblock und die umliegenden Häuser.
    Einige Passanten waren bei den Autos stehen geblieben. Die ersten Reporter hatten sich eingefunden. Die Leute von der Spurensicherung machten Aufnahmen vom Tatort, und die Blitze der Kameras zuckten mit dem Blaulicht um die Wette. Man machte Skizzen von der Stelle, wo der Junge lag, ebenso von der nächsten Umgebung. Das war die erste Phase der Ermittlung.
    »Solche Hosen sind in Mode«, entgegnete Elínborg.
    »Hast du was dagegen, dass Kinder solche Hosen tragen?«, fragte Sigurður Óli.
    »Ich weiß nicht«, sagte Erlendur. »Ja, ich finde es merkwürdig«, erklärte er dann.
    Er sah an dem Wohnblock hoch. In einigen Wohnungen waren die Leute trotz der Kälte auf den Balkon hinausgetreten und starrten nach unten. Andere zogen es vor, drinnen zu bleiben, und begnügten sich damit, aus den Fenstern zu schauen. Die meisten Hausbewohner waren aber noch bei der Arbeit, und in ihren Fenstern brannte kein Licht. Man würde mit sämtlichen Bewohnern des Hauses sprechen müssen. Von dem Zeugen, der das Opfer gefunden hatte, wussten sie, dass der Junge in diesem Haus wohnte. Vielleicht war er allein zu Hause gewesen und auf dem Balkon herumgeklettert und heruntergefallen. In dem Fall würde es als tragischer Unfall registriert werden. Mit dieser Vorstellung konnte Erlendur sich eher anfreunden als mit dem Gedanken, den er nicht zu Ende denken mochte: dass der Junge ermordet worden war.
    Er blickte sich um. Der Garten um den Wohnblock herum machte keinen gepflegten Eindruck. Mitten auf dem Grundstück befand sich ein kleiner Spielplatz mit zwei Schaukeln, von denen die eine kaputt war; der Sitz hing herunter und wurde vom Sturm durch die Luft gewirbelt. Außerdem gab es eine altersschwache, ursprünglich rot lackierte Rutschbahn, die inzwischen aber rostig und fleckig war, und eine einfache Wippe, deren Sitze aus Holzbrettern bestanden. Das eine Ende war am Boden festgefroren, das andere ragte wie ein überdimensionaler Gewehrlauf in die Luft.
    »Wie müssen den anderen Stiefel finden«, sagte Sigurður Óli.
    Alle drei blickten auf die löchrige Socke.
    »Wie ist so etwas möglich«, seufzte Elínborg.
    Mitarbeiter der Kriminalpolizei suchten das Grundstück nach Spuren ab, es wurde jedoch immer dunkler, und auf dem hart gefrorenen Boden schien es keine Abdrücke zu geben. Auf dem
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