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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht
Autoren: Arnaldur Indridason
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Grabstelle hinunter, bevor er sich bückte und die Urne darin versenkte. Der Pastor sah ihm dabei zu und schlug zum Schluss ein Kreuzzeichen darüber. Nur sie beide befanden sich an diesem frostigen Januarnachmittag auf dem Friedhof. Der Schnee, der in der Unwetternacht niedergegangen war, als Niran Kjartan attackiert hatte, war innerhalb von zwei Tagen zum größten Teil weggetaut, da die Temperaturen wieder gestiegen waren. Anschließend war es aber wieder kälter geworden, der Boden war gefroren, und ein eisiger Nordwind blies.
    Erlendur stand in der Kälte neben dem Grab und suchte nach dem Sinn von allem, von Leben und Tod. Wie immer fand er keine Antworten. Es gab keine endgültige Antwort auf die lebenslange Einsamkeit der Person, deren Überreste sich in der Urne befanden. Oder auf den Tod seines eigenen Bruders vor vielen Jahren. Oder darauf, weshalb Erlendur so war, wie er war, und weshalb Elías erstochen wurde. Das Leben war ein ungeregeltes Gewirr von Zufällen, und die bestimmten die menschlichen Schicksale wie Unwetter, die unverhofft hereinbrachen und Vernichtung und Tod mit sich brachten.
    Erlendur dachte an Marian Briem, an das, was sie verbunden hatte und was nun zu Ende war. Er verspürte Trauer und Verlust. Erst, als er die Urne in der Hand hielt, wurde ihm endgültig klar, dass es vorüber war. Er dachte an ihre Beziehung und die gemeinsame Erfahrung. Das war ein Teil von ihm, ohne den er nicht sein konnte und nicht sein mochte.
    Bevor Erlendur zum Friedhof gefahren war, hatte er Andrés noch einmal aufgesucht, um ihn dazu zu bringen, etwas über seinen Stiefvater zu sagen. Dazu war Andrés nicht zu bewegen.
    »Was willst du machen?«, fragte Erlendur.
    »Ich weiß nicht, ob ich was mache«, antwortete Andrés.
    Er stand in der Tür seiner Wohnung und sah Erlendur traurig an.
    »Was werdet ihr machen?«, fragte er.
    »Für uns besteht kein Grund, etwas in die Wege zu leiten, es sei denn, du willst es«, sagte Erlendur. »Uns liegt nichts gegen ihn vor. Wir wissen überhaupt nichts über diesen Mann. Warum willst du mir nicht sagen, wo er wohnt, wenn du es weißt?«
    »Wozu?«, fragte Andrés.
    Erlendur blickte ihn schweigend an.
    »Hast du dich selber gemeint, als du gesagt hast, er habe jemanden umgebracht?«, fragte er.
    Andrés gab ihm keine Antwort.
    »Hat er dich umgebracht?«
    Endlich nickte Andrés.
    »Wirst du was unternehmen?«
    Andrés sah Erlendur eine ganze Weile an, antwortete aber nicht auf seine Frage, sondern ließ langsam die Tür ins Schloss fallen.
    Kjartan überlebte den Angriff. Er hatte viel Blut verloren, und zeitweilig gab man ihm kaum Überlebenschancen. Nur wenige Millimeter, und der Stich hätte den Herzmuskel getroffen. Dank der blitzschnellen Reaktion der Polizisten war er noch rechtzeitig in ärztliche Behandlung gekommen.
    Niran befand sich immer noch in der Obhut der Jugendfürsorge. Er war der Überzeugung gewesen, dass Kjartan seinen Bruder umgebracht hatte, und nachdem er sich von seinem Schock erholt hatte, waren seine Gedanken nur noch um Rache gekreist. Er hatte mit Jóhann darüber gesprochen, der versucht hatte, ihn davon abzubringen, aber vergeblich. Niran hatte seiner Mutter gesagt, dass ihm gedroht worden sei, wollte aber nicht damit herausrücken, wer es gewesen war. Kjartan schäumte vor Wut wegen der Beschädigung seines Autos und war davon überzeugt, dass Niran der Schuldige war; er hatte gedroht, ihn umzubringen. Sunee hatte kein Risiko eingehen wollen, deswegen hatte sie Jóhann gebeten, ihn für ein paar Tage in seine Obhut zu nehmen.
    Einige Tage nach Elías’ Beerdigung stattete Erlendur Sunee einen Besuch ab. Sie setzten sich in das Zimmer der Jungen. Virote war bei seiner Schwester und goss Tee auf, und Elínborg unterhielt sich in der Küche mit ihm über die Trauerfeier. Óðinn und seine Familie hatten Sunee und ihren Angehörigen beigestanden, die aus Thailand angereist waren, um Elías das letzte Geleit zu geben. Seine sterblichen Überreste waren verbrannt und die Urne war Sunee überbracht worden.
    »Du hast keine Tränen vergossen«, sagte Erlendur. Guðný saß bei ihnen und übersetzte.
    »Ich habe genug geweint.«
    Guðný sah Erlendur an, während sie diese Worte übersetzte. »Ich möchte nicht, dass er sich zu viele Sorgen macht«, erklärte Sunee. »Dann wird es schwieriger für ihn, in den Himmel zu kommen. Es wird schwieriger, weil er dann durch die Tränen schwimmen muss.«
    Sie sprachen über die Zukunft. Niran wollte
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