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Traumtagebuecher

Traumtagebuecher

Titel: Traumtagebuecher
Autoren: Jean Sarafin
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Prolog
    Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wie ich an diesen Ort gekommen war. Aber das «Wie?« war ebenso unwichtig, wie das «Warum?«, denn an beides erinnerte ich mich verschwommen, wie durch eine dichte Mauer aus Watte – und beides konnte mir nicht helfen.
    In einem Moment war ich draußen gewesen, hatte um Hilfe gerufen und nach David. Aber der war, ohne sich umzudrehen, gegangen. Wie im Zeitraffer gaukelte mein Gehirn mir die Erinnerung vor und ließ meinen Mund trocken werden, den Kloß in meinem Hals dicker. Ich hatte versucht fortzulaufen, weg von Jonah und seinen beiden Freundinnen. Irgendwann musste ich ohnmächtig geworden sein, doch ich hatte keine Ahnung, wann und wie es geschehen war, denn im nächsten Moment hatte ich die Augen geöffnet und mich in einem kleinen, dunklen Raum als Gefangene wiedergefunden. Es war so nasskalt, dass es mir die Sprache verschlug und ich den ersten Impuls zu schreien unterdrückte. Das Rauschen des Wassers lenkte meine Aufmerksamkeit auf die zweite Hälfte des Raumes.
    Ich blinzelte und wurde das Gefühl nicht los, dass es wieder einen Zeitsprung, eine Ohnmacht, gegeben hatte. Das Wasser, eben noch ruhig in einem betonierten Bett fließend, war zu einer reißenden Strömung geworden, die über die Ufer getreten war. Beinahe hatte die dunkle, nasse Masse schon den Sims erreicht, auf dem ich lag. Erst jetzt registrierte ich wirklich, dass ich eingesperrt war. Es war dunkel – aber nicht dunkel genug.
    Leider, denn ich konnte genau sehen, dass das Wasser immer höher stieg und sogar von oben kam. Unzählige Wassertropfen – vermutlich Regen, dachte mein Verstand mit einer befremdlichen Logik, und ich wünschte sich, er würde damit aufhören – fielen durch ein schmales Gitter, welches sich weit über mir befand, und das Gefängnis von der Welt trennte. Ich kannte das Gefängnis, die Tropfen und das Wasser. Aber ich konnte nichts tun, um die Erinnerungen zu stoppen. Sie kamen ungefragt, unaufhaltsam.
    Kälte kroch in meine Glieder und zog mich wieder in den Traum. Die Gänsehaut auf meinen Kinderarmen ließ sich selbst in diesem verregneten Dämmerlicht nicht übersehen. Jetzt erst registrierte das Mädchen, das ICH war, dass es erbärmlich fror – schon die ganze Zeit gefroren hatte. Doch als ihm klar wurde, dass das Wasser schneller in den Raum hineinfloss, als es abfließen konnte und es immer weiter steigen würde, bis unter die Decke, lähmte die Erkenntnis seinen Geist und überstieg seine Vorstellungen.
    Sekunden später übernahm der Verstand der Kleinen und sie sprang ungeachtet der Kälte und des Wassers auf, hin zu der Tür, die sich am gegenüberliegenden Ende des unterirdischen Raumes abzeichnete. Nichts. Die Klinke ließ sich drücken, aber die Tür bewegte sich nicht. Panisch schlug sie mit der flachen Hand gegen die Tür, rüttelte an der Klinke und rief um Hilfe. Doch weder öffnete sich die Tür noch antwortete jemand.
    Und plötzlich war es zu spät, das Wasser überall, und obwohl sie ein letztes Mal tief Luft geholt hatte, bevor die letzte Luft, die es zwischen Wasser und Decke gegeben hatte, verschwunden war, brannten ihre Lugen schon nach wenigen Sekunden.
    Vor wenigen Minuten – nachdem sich das Gitter in der Decke als zu fest verankert erwiesen hatte – hatte sie beschlossen, dass sie ruhig und gefasst ihrem Schicksal und dem Tod entgegentreten würde. Der Wunsch, ihre Eltern wiederzusehen, endlich, hatte Angst und Verzweiflung ausgeblendet und sich auf die verzweifelte Hoffnung konzentriert. Kurz hatte sie sich vorgestellt, wie ihre Mutter sie durch den Tunnel führen würde, hinein ins Licht. Sicher hätte sie geschimpft, aber nur kurz. Dann hätte sie sich sicher gefreut, dass ihre Tochter nach nur drei Monaten wieder bei ihnen war. Doch was in der Fantasie so einfach schien, war in der Realität ganz anders. Ihr Überlebenswille verdrängte ihren Vorsatz und die hoffnungsvolle Vorstellung. Panik pulsierte in ihren Adern und mit schier übermenschlichen Kräften gelang es ihr, unter Einsatz ihrer Hände als Trichter, durch die Gitterstäbe Luft zu holen. Dann schwappte die Pfütze, die das anstauende Regenwasser über dem Gitter bildete, über ihre Finger.
    Ihre Narbe, ein Überbleibsel des Brandes, begann wie so oft zu schmerzen. Aber dieses Mal war der Schmerz so intensiv, wie bei ihrem Erwachen nach dem Brand. Feurig heiß, wurde er viel qualvoller, als der Druck in ihren Lungen, der doch eben das Maß für Unerträglichkeit
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