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Das weisse Horn

Das weisse Horn

Titel: Das weisse Horn
Autoren: Iwan Antonowitsch Jefremov
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Deutsch von Karel Hemzal

    In dem bleichen, glühendheißen Himmel kreiste träge ein
    Lämmergeier. Ohne jede Anstrengung schwebte er regungs-
    los in großer Höhe.
    Ussolzew sah neidvoll, wie der Geier jetzt mühelos in die
    Höhe stieg, dabei fast in der gleißenden Bläue verschwand
    und dann wieder einige hundert Meter tief hinabstürzte.
    Er kannte die ungeheure Sehschärfe dieser Vögel. Offen- *
    bar spähte der Geier nach Aas.
    Unwillkürlich erschauerte Ussolzew. Der eben erlebte töd-
    liche Schrecken war in ihm noch lebendig. Sein Verstand
    hatte sich zwar beruhigt, aber jeder Muskel, jeder Nerv
    zitterte noch der überstandenen Gefahr nach. Derselbe
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    Geier könnte jetzt auf seinem Leichnam sitzen und mit
    dem krummen Schnabel seinen zerschlagenen Körper auf-
    reißen . . .
    Das mit kahlen Felstrümmern übersäte Tal glühte wie ein
    Backofen. Kein Wasser, kein Baum, kein Gras — nur
    Steine. Klein und scharf waren sie am Talboden und ragten
    dann jäh in gewaltigen Massen in die Höhe. Unbarmherzig
    brannte die Sonne auf die zerklüfteten Felsen.
    Ussolzew erhob sich von dem Stein, auf dem er gesessen
    hatte, und ging — ein widerliches Schwächegefühl in den
    Knien — über das Geröll, das unter seinen Füßen knirschte.
    Nicht weit von ihm, im Schatten eines steilen Felsens,
    stand sein Pferd. Der rotbraune kaschgarische Paß-
    gänger spitzte die Ohren und begrüßte seinen Herrn mit
    leisem, kurzem Wiehern. Ussolzew löste die Zügel, klopfte
    dem Pferd zärtlich den Hals und stieg in den Sattel. Bald
    öffnete sich das Tal vor ihm, die ebene Terrasse des Vor-
    gebirges stürzte plötzlich kilometerbreit steil in die end-
    lose, dunstige Steppe hinab, über der die heiße Luft flim-
    merte. Weit hinter dem graugelben Streifen des Horizontes
    lag das Tal des Ili. Der große, reißende Fluß brachte sein
    kaffeebraunes Wasser aus China in das Gestrüpp stach-
    liger Dshidda und blühender Iris. Hier, in diesem Steppen-
    reich gab es kein Wasser. Der trockene, heiße Wind ra-
    schelte in den dünnen Stengeln des Tschi*.
    Ussolzew hielt sein Pferd an, erhob sich in den Steigbügeln
    und blickte zurück. Am Rande der ebenen Terrasse ragte
    eine steile braungraue Wand empor, die von einigen
    * Eine hohe, in Büscheln wachsende Grasart der mittelasiatischen Steppen.
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    trockenen Karen durchschnitten war, wodurch ihr Kamm
    in ungleichmäßige, scharfe Zacken geteilt wurde. In der
    Mitte erhob sich, wie der Hauptturm einer Festungs-
    mauer, ein einzelner steiler Berg. Seine zerklüftete Brust
    hielt er den glühendheißen Steppenwinden entgegen. Auf
    seinem Gipfel thronte eine völlig weiße, leicht gebogene
    Zacke, die sich scharf gegen das dunkle Gestein abhob.
    Dieser Berg war bedeutend höher als die andern, und sein
    spitzer weißer Gipfel glich einem riesigen, hoch erhobenen
    Horn.
    Ussolzew blickte von Scham gequält lange auf den un-
    besteigbaren Felsen. Er, der Geologe und Forscher, war
    zitternd vor Furcht in dem Augenblick zurückgewichen, als
    er sich offensichtlich dem Ziel genähert hatte. Und v o n '
    ihm sagte man, daß er ein unermüdlicher, hartnäckiger Er-
    forscher des Tienschan wäre. Wie gut, daß er sich allein
    und ohne Gehilfen aufgemacht hatte. Niemand war Zeuge
    seiner Furcht gewesen. Unwillkürlich schaute er um sich,
    aber die glühende Weite war menschenleer — nur heftige
    Windstöße wehten über die Steppe, und lilafarbener
    Höhenrauch hing unbeweglich über der nach Osten ziehen-
    den Bergkette.
    Das Pferd stampfte ungeduldig mit den Hufen.
    „Nun Brauner, es ist Zeit, nach Hause zu kommen", sagte
    der Geologe leise, und als hätte es seinen Herrn ver-
    standen, streckte das Tier seinen Hals und lief den Ab-
    hang entlang. Die kleinen Hufe hallten auf dem harten
    Erdboden wider. Der schnelle Ritt ermunterte den Geo-
    logen etwas.

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    Von dem abschüssigen Abhang aus sah Ussolzew den
    Lagerplatz seiner Gruppe. Am Ufer eines kleinen Baches,
    unter dem ungenügenden Schutz der silbrigen feinen Äste
    eines Dshidda-Gestrüpps, waren zwei Zelte aufgeschlagen,
    und eine kaum sichtbare Rauchsäule stieg in die Luft.
    Etwas weiter, schon am Rande der Steppe, stand ein dicker
    Karagatsch*, der schwer an der Lastseines dichten Laubes
    trug. Unter ihm war noch ein hohes Zelt zu sehen, bei
    dessen Anblick sich der Geologe traurig abwandte.
    „Sind die Jungs noch nicht zurück, Arslan?" fragte Ussol-
    zew. Der ältliche Arbeiter, ein Uigure**, der gerade Pilaw
    in einem
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