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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss
Autoren: Silvia Roth
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PROLOG
     
     
Komm nicht aus unsrem Mund,
Wort, das den Drachen sät.
’s ist wahr, die Luft ist schwül,
vergoren und gesäuert schäumt das Licht,
und überm Sumpf hängt schwarz der Mückenflor.
Ingeborg Bachmann, »Rede und Nachrede«
     
     
     
    Wiesbaden, Oktober 2007
     
    Die Frau betritt die Sparkassenfiliale in der Hohenzollernstraße mit zögernden Schritten. Sie ist recht groß für ihr Alter, aber schmal und zierlich, sodass sie alles in allem eher unauffällig wirkt. Eine Rentnerin in einem braunen Mantel, ehemalige Büroangestellte vielleicht, etwa Mitte sechzig, möglicher weise auch älter. Hinter der Automatiktür bleibt sie für einen kurzen Moment stehen und streicht sich eine Strähne ihres Haars aus der Stirn, das einmal kastanienbraun gewesen sein muss. Dann geht sie über den hellen Marmorboden, direkt auf den mittleren der drei Schalter zu.
    Ihre Brieftasche hält sie bereits in der Hand, nicht, weil sie es etwa eilig hätte, sondern damit sie nicht vergisst, weswegen sie gekommen ist. So etwas passiert ihr in der letzten Zeit immer häufiger. Dass sie vergisst, was sie tun wollte. Oder sich an einem Ort wiederfindet, der ihr vollkommen willkürlich vorkommt, obwohl sie ganz sicher zu wissen glaubt, dass sie ihn gezielt aufgesucht hat. Diese Entwicklung bereitet ihr Sorge, aber sie hat auch keine Ahnung, wie sie sie aufhalten soll. Ob sie überhaupt aufzuhalten ist. Oder ob sie zu etwas gehört, mit dem sie sich abfinden muss. Notgedrungen.
    Im Abfinden ist sie so gut wie in nichts sonst.
    Außer vielleicht im Sticken.
    Oh ja, Sticken ist etwas, das sie auch ziemlich gut kann. Mehr noch: Sie tut es gern, obwohl es eigentlich entsetzlich eintönig ist. Nadel rein, Nadel raus, Reihe für Reihe, Stich für Stich. Die Farben variieren. Ebenso die Motive. Aber die Bewegung, die Tätigkeit an sich, bleibt immer die gleiche. Die Sicherheit liegt in der Wiederholung. Eines der Grundprinzipien ihrer Welt.
    Meinst du nicht, dass du es zur Abwechslung mal mit Nähen versuchen solltest?, fragt ihre Freundin manchmal, wenn sie eines ihrer seltenen Telefongespräche führen. Nein, sagt sie dann, vom Nähen wird mir schlecht . Der verständnislosen Stille, die dieser Fest stellung üblicherweise folgt, hat sie nichts entgegenzusetzen, weshalb sie sich notgedrungen damit abfindet, dass ihre Freundin sie für verrückt oder doch zumindest für komplett phantasielos hält.
    Sich abfinden ist etwas, das sie gut kann.
    Noch besser als Sticken.
    Oder Reiten.
    Nein, denkt sie. Nicht das. Reiten ist aus einem anderen Leben. Aus einem Leben, in das zurückzublicken nicht ratsam ist. Sie nennt es das Film-Leben, und das meint sie wörtlich. Die alte Schmalfilmrolle liegt in einem Karton ganz hinten im Schrank, zusammen mit dem Projektor, mit dem man sichtbar machen kann, was so weit entfernt ist, dass es mit ihr nicht das Geringste zu tun zu haben scheint. Sicherheit durch innere Entfernung. Auch etwas, das sie schätzen gelernt hat. Wenn man in der Falle sitzt, muss man von sich selbst zurücktreten. Flüchten in die magischen Geheimkammern der Phantasie.
    Sie blickt auf die Geldbörse in ihrer Hand hinunter und versucht sich zu erinnern, weshalb sie gekommen ist.
    Als es ihr wieder eingefallen ist, hebt sie den Kopf. Normalerweise holt sie ihr Geld in einer anderen Filiale. Nur heute, da ist sie im Kurpark gewesen und hat die Zeit vergessen. So etwas passiert ihr, gottlob, nicht oft, aber heute ist es nun einmal passiert, und jetzt ist es kurz vor Schalterschluss, ein Freitag obendrein, davon hat sie sich auf dem Weg hierher an drei Kiosken überzeugt. Es ist Freitag und entschieden zu spät, um ihre gewohnte Filiale noch rechtzeitig zu erreichen, aber sie hat kein Essen mehr im Haus, und an die Automaten traut sie sich nicht ran. Erst recht nicht, seit sie gelesen hat, wie genau diese Dinger angeblich aufzeichnen, wann sie wo wie lange gestanden hat, um wie viel Geld abzuholen.
    Zum Glück sehen diese Sparkassenschilder überall gleich aus.
    Wiedererkennungswert, denkt sie, ist etwas, das man nicht hoch genug einschätzen kann. Zumindest nicht, wenn man so vergesslich ist wie sie. Aber Vergesslichkeit ist lebensnotwendig. Wer nicht vergessen kann, kommt um. Auf die eine oder andere Weise. Das ist eines der wenigen Dinge, die sie ganz sicher weiß.
    Ihre Finger krampfen sich um das Portemonnaie, als sie an den Schalter tritt.
    Direkt vor ihr, hinter dem Loch in der Scheibe, schwebt ein Gesicht. Es ist ein
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