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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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war groß und dick, mit hohen Wangenknochen, die unter ihren Augen hervorstanden wie Lenkergriffe.
    »Sie sind riesig«, stellten wir fest. »Hier ist kein Platz für Sie. Sie stoßen sich den Kopf an der Decke.«
    Wir versuchten, ihr die Tür vor der Nase zuzumachen, aber sie drückte sie einfach auf, hielt eines ihrer Beine hoch und deutete auf den Stiefel.
    »Ohne die da bin ich kleiner.«
    Sie zog den Kittel aus und sprach davon, dass es eine Gegend in China gebe, wo alle Frauen so gebaut seien wie sie, »wie Cadillacs«, sagte sie und lachte und machte mit ihren großen Pranken zu beiden Seiten eine Bewegung, die die Größe andeuten sollte. Sie reichte uns eine braune Papiertüte, beugte sich vor, um ihre Stiefel aufzuschnüren, und sagte: »Macht das noch nicht auf, stellt es nur auf den Tisch und holt mir eure Mutter, ganz egal, wo sie sich versteckt.«
    »Sie schläft«, brummte Manny. Wir brachten die Einkäufe gar nicht erst in die Küche. Wir schütteten alles auf den Wohnzimmerteppich und stürzten uns auf das Brot, das schon geschnitten war, und den Käse, stopften uns Hände voll in den Mund, tranken die Milch aus der Packung, sahen Lina direkt in die Augen, wir drei, wir forderten sie heraus. Sie zeigte ihre großen, breiten Pferdezähne. Sie pfefferte die Stiefel in die Ecke.
    »Ich werdet noch ersticken«, warnte sie, »wenn ihr nicht aufpasst. Genossin «, brüllte sie, trat über uns hinweg, und Ma kam angerannt und warf sich in Linas dicke Arme, vergrub ihr Gesicht in Linas seidig schwarzen Haaren und weinte.
    Lina stand eine Weile da, griff dann in ihren Kittel und zog ein Taschentuch heraus, nahm das Gesicht unserer Mutter in ihre Hände, wischte es ab und schob ihre Haarsträhnen hinter die Ohren. Wir knieten keine zwei Schritte entfernt auf dem Boden, und je länger Lina dastand und an Ma herumrieb, umso weniger Aufmerksamkeit schenkten wir den Einkäufen. Dann begann Lina, Ma überall zu küssen, kleine, weiche Küsse, sie bedeckte Mas ganzes Gesicht damit, selbst die Nase und die Augenbrauen. Dann legte sie ihre Lippen auf Mas Lippen und hielt sie dort, weich und regungslos, und niemand – ich nicht, Ma nicht, Joel oder Manny nicht, niemand – sagte ein Wort. Es gab nichts zu sagen.

Andere Heuschrecken
    W ir stiegen in den Garten des alten Mannes ein und bedienten uns. Der alte Mann hatte eine hohe Hecke und lebte an einer Schotterstraße, die für unsere Räder fast zu holprig und zerfurcht war, aber wir bahnten uns einen Weg, drückten uns durch die Hecke, kamen in den Garten und bedienten uns. Wir probierten und zertrampelten und verwüsteten, und als wir aufblickten, beobachtete uns der alte Mann von der Veranda aus, sah einfach nur zu.
    »Tiere«, zischte er. Er machte ein Gesicht, als wollte er ausspucken. »Plagen.«
    Wir schämten uns vor ihm. Er war sehr alt.
    »Ist das Ihr Garten?«, fragte Manny. Joel ließ eine Tomate aus der Hand fallen und wischte sich dann mit dem Handrücken den Mund ab.
    Der alte Mann öffnete die Fliegentür und kam die Treppe herunter auf uns zu. Er ging im Staub auf die Knie und befingerte die abgeknickten Triebe. Er nahm eine halb gegessene Gurke und wischte die Erde ab, dann klappte er ein Taschenmesser auf und schnitt die Bissspuren weg. Die Pflanzen, die wir mit den Wurzeln herausgerissen hatten, wurden wieder in die Erde gesetzt. Steif kroch er auf Händen und Knien herum, und wir standen da und schauten zu.
    Der alte Mann drückte uns das gerettete Gemüse in die Hände und scheuchte uns dann auf die Veranda. Wir legten es auf einen Klapptisch.
    »Was sind Plagen?«, wollte Joel wissen.
    »Was die Raupen lassen, das fressen die Heuschrecken; und was die Heuschrecken übrig lassen, das fressen die Käfer; und was die Käfer übrig lassen« – der alte Mann machte eine Pause und starrte jeden Einzelnen von uns mit zusammengekniffenen Augen an –, »das frisst das Geschmeiß.«
    Dann schimpfte er uns Eindringlinge, Marodeure, Plünderer, die Armee des Teufels auf Erden.
    Er sprach in einem gebrochenen Singsang – Missouri, wie sich herausstellte –, und wir verstanden nicht mal die Hälfte der Wörter, die er benutzte, aber Heuschrecken, die Bedrohung und die Möglichkeit von Heuschrecken weckten unsere Vorstellungskraft, und wir brachten den alten Mann dazu, uns immer und immer wieder davon zu erzählen, bis wir es verstanden. Wir brachten ihn sogar dazu, uns ein Bild von Heuschrecken zu malen, ein Gewirr aus schwarzen Filzstiftstrichen oben
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