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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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und zu necken oder an sich zu drücken, um ihn wissen zu lassen, dass sie eigentlich nur Angst davor hatte, ohne ihn zu sein. Ich, ich hätte lieber losgelassen und wäre still an den schwarzen Grund des Sees gesunken, als den beiden meine Angst zu gestehen.
    Aber ich musste gar nichts sagen, denn Paps antwortete schon für mich.
    »Er wird es lernen«, sagte er, »ihr beide werdet es lernen«, und danach sprach lange Zeit keiner mehr ein Wort. Ich sah, wie das Mondlicht über dem See in Tausende Lichtsplitter zerfiel; ich sah die dunklen Vögel kreisen und krächzen, den Wind die Äste heben, die Kiefern wanken. Ich spürte, wie der See kälter wurde, und ich roch die toten Blätter.
    Später, nach dem Zwischenfall, fuhr uns Paps nach Hause. Er saß hinter dem Lenkrad, noch immer ohne Hemd, Rücken und Hals und sogar Gesicht schraffiert von Kratzern, manche nur dunkelrote Linien und aufgerissene Haut, andere, die schon verschorften, und einige, die noch immer frisch glänzten, und auch ich war völlig verkratzt – denn Ma war in Panik geraten, und als Paps davonglitt, hatte sie sich an mich gekrallt. Später meinte Paps zu ihr: »Wie sollt ihr es denn sonst lernen?«
    Und Ma, die mich beinahe ersäuft hätte, die geschrien und geweint und ihre Fingernägel in mich gebohrt hatte, die durchgedrehter und wilder war als je, Ma, die so überschäumte vor Wut, dass sie Manny vorn bei Paps platzierte und sich hinten in die Mitte setzte und ihre Arme um uns legte – Ma antwortete darauf, indem sie über mich hinweggriff und während der Fahrt die Tür öffnete. Ich schaute hinunter und sah den Asphalt undeutlich vorbeirasen, und der Straßenrand verschwand in einer Kiesgrube. Ma hielt die Tür auf und fragte: »Was? Willst du, dass ich ihm das Fliegen beibringe? Soll ich ihm das Fliegen beibringen?«
    Paps musste anhalten und sie beruhigen. Wir drei Jungs sprangen hinaus, gingen an den Straßenrand und pinkelten in den Graben.
    »Und sie hat dich echt so zerkratzt?«, fragte Manny.
    »Sie wollte mir auf den Kopf klettern.«
    »Was für eine …«, fing er an, sprach aber nicht zu Ende. Er war zwei Jahre älter als Joel und drei Jahre älter als ich. Wir warteten auf sein Urteil, auf die andere Hälfte des Satzes, aber er nahm nur einen Stein und schleuderte ihn so weit, wie er nur konnte.
    Wir hörten, wie sie sich im Auto stritten, wir hörten Ma immer und immer wieder sagen: »Lass mich los. Lass mich los«, und wir schauten zu, wie die großen Sattelschlepper vorbeidonnerten und das Auto und den Boden unter unseren Füßen zum Beben brachten.
    Dann lachte Manny und sagte: »Shit, ich hab echt gedacht, jetzt schmeißt sie dich aus dem Auto.«
    Joel lachte auch; er sagte: »Shit, ich dachte, du fliegst gleich.«
    Als wir schließlich zum Wagen zurückgingen, saß Ma wieder vorne, und Paps fuhr mit einer Hand um ihren Nacken. Er wartete bis zum richtigen Augenblick, als wir alle zur Ruhe gekommen waren und den Frieden genossen und an die Betten dachten, die zu Hause auf uns warteten, dann drehte er den Kopf zur Seite, warf mir einen Blick über die Schulter zu und fragte ganz neugierig und freundlich: »Also, wie hat dir deine erste Flugstunde gefallen?« Und der ganze Wagen brach in schallendes Gelächter aus.
    Doch der Zwischenfall spielte sich ununterbrochen in meinem Kopf ab, und ich konnte nachts im Bett vor lauter Erinnern nicht schlafen. Wie Paps davongeglitten war, wie er zusah, wie wir zappelten und strampelten, wie ich Mas Krallen und Greifen entkommen musste, wie ich mich einfach tiefer und tiefer sinken ließ und was ich dort sah, als ich die Augen aufmachte: schwarzgrüne Dunkelheit, eine Unterwasserwelt, Entsetzen. Ich versank eine ganze Weile, desorientiert und mich windend, und plötzlich schwamm ich – ich trat mit den Füßen und streckte die Arme aus, wie mein Paps es mir vor langer Zeit gezeigt hatte, und ich stieg zum Licht auf und schoss in die Luft, und dann der erste Atemzug, ich sog die Luft ganz tief in meine Lunge, und als ich hinaufsah, war der Himmel noch nie so gewölbt gewesen, so glitzernd und großartig. Ich erinnerte mich an die Dringlichkeit in den Stimmen meiner Eltern. Ma schlang sich wieder um Paps, und beide riefen nach mir. Ich schwamm auf ihre dümpelnden Umrisse zu, und dort unter den Sternen war ich gewollt. Nie waren sie so froh gewesen, mich zu sehen, nie hatten sie mich mit derartiger Intensität und Hoffnung angeblickt, nie zuvor hatten sie meinen Namen so sanft
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