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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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der Kommode lag ein Spiegel mit Messinggriff; kaum hatte Ma ihn vors Gesicht gehalten, stiegen Tränen auf und saßen auf ihren Wimpern und wollten runterkullern. Ma konnte die Tränen länger zurückhalten als sonst jemand; manchmal wanderte sie stundenlang so herum, hielt sie fest, ließ sie nicht heruntertropfen. An solchen Tagen fuhr sie mit ihren Fingern über Gegenstände oder hatte stumm das Telefon im Schoß liegen, und man musste sie dreimal rufen, bevor sie einen ansah.
    Ma hielt also die Tränen zurück und besah ihre Hässlichkeit. Wir drei Jungs gingen aus dem Zimmer, doch sie rief mich zu sich, sagte, sie wolle mit mir darüber reden, sechs zu bleiben, aber viel mehr sagte sie nicht, sie sah nur unentwegt in den Spiegel und drehte den Kopf in verschiedene Richtungen.
    »Was hat er mit mir angestellt?«, wollte sie wissen.
    »Er hat dir ins Gesicht geschlagen«, sagte ich, »um die Zähne zu lockern.«
    Ich sprang beim Geräusch von zerberstendem Glas erschreckt auf. Die Köpfe meiner beiden Brüder tauchten im selben Augenblick in der Tür auf, grinsten, schauten von Ma zu mir, zu den Spiegelscherben, zu der Stelle an der Wand, an die etwas geschmettert worden war, zu Ma, zu mir.
    Ma hatte die Hände wieder schützend vor die Wangen gelegt und die Augen geschlossen. Als sie sprach, formulierte sie jedes einzelne Wort langsam und deutlich.
    »Findet ihr das lustig, wenn Männer eure Ma verprügeln?«
    Das Lächeln meiner Brüder wich Stirnrunzeln; sie verschwanden.
    Ich wickelte mich wieder in den Vorhang und lehnte meine Stirn an die Scheibe. Das Licht spiegelte sich zwischen weißem Himmel und Schnee; das Licht fing sich im Frost an der Scheibe. Draußen war es zu hell, um auf einen Fleck zu schauen. Ich riss die Augen so weit auf, wie ich konnte, bis sie vor Licht brannten, und ich dachte daran, blind zu werden, daran, was alle sagten, wenn man direkt in die Sonne starrte, würde man blind – aber sosehr ich es versuchte, ich konnte mich nicht selbst blenden.
    Ma setzte sich auf die Bettkante, atmete laut und langsam und verzieh mir. Sie rief mich, ich solle mich auf ihren Schoß setzen, ich gehorchte, und wir atmeten zusammen. Dann sang Ma mein Lieblingslied, eins über eine Frau mit Federn und Orangen und Jesus Christus, der übers Wasser wandelt. Mein Kopf reichte bis an ihre Schulter, aber sie wiegte mich, wiegte mich und summte dort, wo sie die Wörter vergessen hatte.
    »Versprich mir«, sagte sie, »versprich mir, dass du immer sechs bleibst.«
    »Wie denn?«
    »Ganz einfach. Du bist nicht sieben; du bist sechs plus eins. Und nächstes Jahr wirst du sechs plus zwei. Einfach so, für immer.«
    »Warum?«
    »Wenn man dich fragt, wie alt du bist, und du antwortest: ›Ich bin sechs und eins oder zwei oder mehr‹, dann sagst du ihnen, dass du immer Mas kleiner Junge bist, ganz egal, wie alt du wirklich bist. Und wenn du mein kleiner Junge bleibst, dann habe ich dich für immer, und du gehst mir nicht aus dem Weg, wirst nicht verschlagen und tough, und ich muss mein Herz nicht abhärten.«
    »Du hast aufgehört, sie zu lieben, als sie sieben geworden sind?«
    »Sei doch kein Dummkopf«, sagte Ma. Sie wischte mir die Haare aus der Stirn. »Große Jungs lieben ist anders als kleine Jungs lieben – auf harte Jungs musst du hart reagieren. Das macht mich manchmal müde, das ist alles, und du, ich will nicht, dass du mich verlässt, ich bin nicht so weit.«
    Dann beugte Ma sich vor und flüsterte mir noch mehr ins Ohr, erzählte mir, warum sie es wichtig fand, dass ich sechs war. Sie flüsterte mir das alles zu, ihr Bedürfnis war so groß, nirgendwo gab es Zärtlichkeit, nur Paps und Jungs, die wie Paps wurden. Es waren nicht nur die gegurrten Worte, auch die Feuchtigkeit ihrer Stimme, der Hauch von Schmerz, die warme Nähe ihrer Prellungen, die einen Funken in mir auslösten.
    Ich drehte mich zu ihr um, sah die Schwellungen zu beiden Seiten ihres Gesichts, die schmutzig rote Haut, gelb umringt. Diese Prellungen wirkten so empfindlich, so weich, so schmerzempfänglich, und dieser Drang, dieser Funke stieg aus meinem Innersten auf, fuhr mir durch die Brust, dieses gemeine Kribbeln, die Arme lang bis in die Hände. Ich packte ihre beiden Wangen und zog sie zu einem Kuss zu mir hin.
    Der Schmerz schoss ihr scharf und schnell in die Augen, riss ihr die Pupillen zu großen schwarzen Scheiben auf. Sie zuckte mit ihrem Gesicht von meinem fort und schubste mich auf den Boden. Sie verfluchte mich und Jesus,
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