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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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Wir wollten mehr
    W ir wollten mehr. Wir pochten mit den Stielen unserer Gabeln auf den Tisch, schlugen mit den Löffeln gegen die leeren Schüsseln; wir waren hungrig. Wir wollten mehr Krach, mehr Spaß. Wir drehten die Lautstärke am Fernseher hoch, bis uns die Ohren vom Gebrüll wütender Männer wehtaten. Wir wollten mehr Musik im Radio; wir wollten Beats; wir wollten Rock. Wir wollten Muskeln an unseren dürren Armen. Wir hatten Vogelknochen, hohl und leicht, und wir wollten mehr Dichte, mehr Gewicht. Wir waren sechs schnappende Hände, sechs trampelnde Füße; wir waren Brüder, Jungs, drei kleine Könige im Kampf um mehr.
    War es kalt, dann stritten wir uns um die Decken, bis der Stoff zerriss. War es richtig kalt, war unser Atem frostige Wolken, dann kam Manny zu Joel und mir ins Bett gekrochen.
    »Körperwärme«, sagte er.
    »Körperwärme«, pflichteten wir ihm bei.
    Wir wollten mehr Fleisch, mehr Blut, mehr Wärme.
    Kämpften wir, dann mit Stiefeln, Autowerkzeug, Kneifzangen – wir schnappten uns, was uns in die Quere kam, und warfen damit; wir wollten mehr kaputte Teller, mehr zerbrochenes Glas. Wir wollten, dass es krachte.
    Und wenn unser Paps nach Hause kam, gab es Schläge. Unsere kleinen runden Arschbacken waren zerschunden: rot, roh, ledergepeitscht. Wir wussten, dass es auf der anderen Seite des Schmerzes, am anderen Ende des Stachels noch etwas gab. Dornige Hitze strahlte von unseren Oberschenkeln und Rücken auf, Feuer verzehrte unsere Hirne, aber wir wussten, dass da noch mehr war, ein Ort, zu dem uns unser Paps bringen wollte. Wir wussten es, weil er alles daransetzte, sich Zeit ließ. Er erweckte uns; er führte uns über das Brennen und Reißen hinaus, und dorthin gelangte man nicht auf die Schnelle.
    Und wenn unser Vater fort war, wollten wir Väter sein. Wir jagten Tiere. Wir wateten durch den Schlamm des Flüsschens, jagten Ochsenfrösche und Wasserschlangen. Wir holten die frisch geschlüpften Rotkehlchen aus dem Nest. Wir spürten den Schlag der winzigen Herzen, die Anstrengung der winzigen Flügel. Wir hielten uns ihre winzigen Tiergesichter direkt vor unsere.
    »Wer ist dein Daddy?«, fragten wir, dann lachten wir und schleuderten sie in einen Schuhkarton.
    Immer mehr, immer hungrig scharrten wir nach mehr. Aber es gab auch Zeiten, ruhige Augenblicke, wenn unsere Mutter schlief, nachdem sie zwei Tage lang nicht geschlafen hatte und jedes Geräusch, jede knarzende Treppenstufe, jedes Türklappern, jedes unterdrückte Lachen, jede Stimme sie vielleicht aufschreckte, kristallklare Vormittage, wenn wir sie, diesen verwirrten Vogel von einer Frau, beschützen wollten, diese stolpernde Schwärmerin mit ihren Rückenschmerzen, ihrem Kopfweh und ihrer ganzen müden, müden Art, dieses entwurzelte Geschöpf aus Brooklyn, sie, die Tacheles mit einem redete, immer voller Tränen, wenn sie uns sagte, sie würde uns lieben, ihre verworrene Liebe, ihre bedürftige Liebe, ihre Wärme, diese Vormittage, wenn die Sonne durch die Spalten in unseren Fensterläden fiel und sich in säuberlichen Streifen auf unseren Teppichboden legte, diese stillen Vormittage, wenn wir uns selbst Haferbrei machten und uns mit Wachsmalstiften und Papier bäuchlings auf den Boden legten, mit Glasmurmeln, bei denen wir sorgsam darauf achteten, dass sie nicht klapperten, wenn unsere Mutter schlief, wenn die Luft nicht nach Schweiß oder Atem oder Schimmel roch, wenn die Luft still und leicht war, diese Vormittage, wenn Stille unser heimliches Spiel war, unser Geschenk, unsere höchste Erfüllung – dann wollten wir weniger: weniger Gewicht, weniger Arbeit, weniger Krach, weniger Vater, weniger Muskeln und Haut und Haar. Wir wollten nichts, nur das, nur das.

Nimmerzeit
    W ir drei saßen in Regenjacken am Küchentisch, Joel zerquetschte Tomaten mit einem kleinen Gummihammer. Das hatten wir im Fernsehen gesehen: ein Mann mit wirrem Schnurrbart und Hammer, der Gemüse schlachtete, und Menschen in durchsichtigen Regenponchos, denen der ganze Matsch entgegenschoss und die einen Riesenspaß daran hatten. Wir wollten auch so grinsen wie sie. Wir spürten, wie die Tomate aufplatzte und ihre Eingeweide herumspritzte; die Eingeweide tropften an den Wänden herunter, landeten auf Wangen und Stirnen und verklebten uns die Haare. Als wir keine Tomaten mehr hatten, gingen wir ins Bad und zogen Mutters Cremetuben unter dem Waschbecken hervor. Wir schlüpften aus unseren Regenjacken und setzten uns so hin, dass die weiße Creme, sobald
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