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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition)
Autoren: Franka Potente
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    GÖTTERWINDE  
    V orsichtig setzte sie den feinen Pinsel an.  
    Sie war im Geiste die Linien durchgegangen und hatte das Bild vor ihrem inneren Auge geformt.  
    Die zarte geschwungene Linie zog sich elegant über das Reispapier, das sofort die Tusche aufsog. Die schwarze Kontur des Fujiyama erhob sich aus dem Nebel und thronte über Tokios Skyline. Sehr oft schon hatte sie dieses Motiv gemalt. Heute allerdings war es besonders gelungen.  
    Das Bild war fertig. Gerade als sie das Papier zum Trocknen aufhängen wollte, klingelte die Ladenglocke.  
    Ihr Arbeitsplatz war nur durch einen Vorhang vom Verkaufsraum getrennt. Es gab einen großen Tisch, voll mit Tuschfässchen und Mineralfarben in kleinen Glasbehältern und kostbaren Pinseln, die sie sorgfältig in einem verzierten Holzkästchen aufbewahrte. Eine kleine Lampe spendete Licht, Fenster gab es nicht.  
    Der Laden selbst war klein. Er war ihr sehr vertraut. Sie war praktisch hier aufgewachsen. Seit vierzig Jahren hatte sich kaum etwas geändert. Es gab einen Tresen aus Teakholz mit einer Glasvitrine. In einer großen Schublade darunter befanden sich die einfachen, schlichten Fächer, die sie zusammengefaltet in Stapeln aufbewahrte.  
    Im Schaufenster stellte sie die schönsten Originale aus der Edo-Zeit aus. Sie wechselte die Auslage wöchentlich. Die Fächer mussten dann sorgfältig gereinigt und entstaubt werden.  
    An der Wand hinter dem Tresen hingen gerahmte Kalligrafien ihres Vaters. Die Mutter hatte sie nach seinem Tod dort aufgehängt. Ein kleines gerahmtes Bild der Eltern stand seit dem Tod der Mutter in einer der Vitrinen, neben dem Päonienblütenfächer aus der Meiji-Zeit. Dieser Fächer war nur ein Ausstellungsstück, es war der Lieblingsfächer der Mutter gewesen. Das Foto der Eltern hatte sie selbst gemacht. Vater und Mutter stehen darauf lächelnd hinter dem Tresen. Ihre Schultern berühren sich leicht. Beide haben die Hände gefaltet. Sie trägt einen dunkelgrünen Kimono. Sie hatte immer einen Kimono im Laden getragen. Einen Baumwoll-Komon, mit kleinem Muster. Frau Michi selbst tat dies nur zu besonderen Feiertagen.  
    Dann gab es noch zwei Vitrinenschränke, in denen sowohl bunte Blattfächer als auch verschiedene Faltfächer ausgestellt waren.  
    Frau Michi schlüpfte in ihre Pantoffeln, die unter dem Tisch warteten, zog den Vorhang zur Seite und trat hinter den Tresen.  
    »Konnichi wa!« Ein Europäer um die Fünfzig verbeugte sich höflich. Ein »Gaijin«, ein »Außenmensch«.  
    »Das ist ein schöner Laden«, sagte er mit angenehm ruhiger Stimme. Oft waren die Ausländer sehr laut. Das fiel besonders in dem kleinen, stillen Laden auf. Das war einer der Gründe, warum Frau Michi sich oft schwertat mit den Gaijin. Sie waren zu laut, zu direkt. Ständig lag Konfrontation in der Luft. Dabei verkaufte sie nur Fächer.  
    Frau Michi verbeugte sich dankend. Der Mann hatte mittelbraunes, schütteres Haar. Er trug ein Jackett aus Tweed, darunter ein schlichtes dunkelblaues Hemd. Er hatte eine Art Aktentasche dabei, und an seiner Jacke fiel ihr nun ein Plastikschild auf: »Agricultural Congress, All Access, Schreiber«.  
    Der Mann schien kein typischer Tourist zu sein. Sein Blick war zu unaufgeregt, die Kleidung zu formell. Er sah sich aufmerksam im Laden um, trat an die Vitrinen heran und sah sich die darin ausgestellten Fächer aufmerksam an. Groß war die Auswahl nicht mehr.  
    Als ihr Vater noch selbst Fächer hergestellt hatte, war der Laden fast zu klein gewesen für das Sortiment. Damals hatten sowohl ihre Mutter als auch sie selbst mitgeholfen. Damals hatten sie zu zweit hinter dem Vorhang gesessen.  
    »Ein Fächermacher kann nicht alleine arbeiten, Fächer zu machen ist die Kunst guter Zusammenarbeit«, hatte ihr Vater immer gesagt. Oft stellte er noch zwei weitere Gehilfen an, um das Papier zu laminieren und zuzuschneiden. Damals mieteten sie im Kimonoladen nebenan noch einen der hinteren Räume an. Zu Mittag tischte die Mutter für fünf Personen auf. Sie räumten die Tusche und Pinsel beiseite und saßen still hinter dem Vorhang.  
    Herr Schreiber wandte sich ihr jetzt zu: »Entschuldigung, ich suche ein Geschenk für meine Tochter.«  
    Frau Michi lächelte: »Was für eine Art Fächer suchen Sie denn?«  
    Der Mann sah verloren aus.  
    »Ich kenne mich mit Fächern leider gar nicht aus.« Er klang beschämt.  
    Frau Michi verbeugte sich entschuldigend: »Das macht nichts. Die meisten Kunden kennen sich nicht
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