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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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der Hammer zugeschlagen und sie herausgepresst hatte, überall hinspritzte, bis in die Falten unserer geschlossenen Augen und in die Ohren.
    Unsere Mutter kam in die Küche, wickelte ihren Morgenmantel eng um sich, rieb sich die Augen und sagte: »Mannomann, wie spät ist es?« Wir antworteten, es sei Viertel nach acht, »Scheiße«, sagte sie, rieb sich die geschlossenen Augen noch fester, und dann sagte sie lauter erneut »Scheiße«, nahm den Wasserkessel, donnerte ihn auf den Herd und schrie: »Warum seid ihr nicht in der Schule?«
    Es war Viertel nach acht abends, und außerdem war Sonntag, aber keiner klärte sie auf. Sie arbeitete Nachtschicht in der Brauerei hügelaufwärts, nicht weit von unserem Haus, und manchmal kam sie ganz durcheinander. Sie wachte völlig verwirrt zu allen möglichen Zeiten auf, verwechselte die Tage, die Stunden, befahl uns mitten am Tag, Zähne zu putzen und Schlafanzüge anzuziehen und uns ins Bett zu legen; oder wir kamen morgens im Halbschlaf in die Küche, sie zog einen falschen Hasen aus dem Ofen und sagte: »Was ist nur los mit euch Jungs? Ich rufe schon seit Ewigkeiten zum Abendessen.«
    Wir hatten gelernt, sie nicht zu korrigieren oder sie aus ihrer Verwirrung zu befreien; das machte alles nur schlimmer. Einmal, als wir es noch nicht besser wussten, hatte sich Joel geweigert, zu den Nachbarn zu gehen und um ein Stück Butter zu bitten. Es war kurz vor Mitternacht, und sie wollte einen Kuchen für Manny backen.
    »Ma, du bist verrückt«, sagte Joel. »Es schlafen doch alle, und außerdem hat er nicht mal Geburtstag.«
    Sie starrte eine ganze Weile auf die Uhr, schüttelte schnell den Kopf, dann sah sie Joel an; ihr Blick bohrte sich in seine Augen, so als wollte sie durch sie hindurchschauen, in die hinteren Areale seines Gehirns. Ihr Mascara war ganz verschmiert, ihre steifen, dicken Haare lagen in schwarzen Locken um ihr Gesicht und waren am Hinterkopf platt gelegen. Sie sah aus wie ein Waschbär, den man beim Wühlen im Müll ertappt: überrascht, gefährlich.
    »Ich hasse mein Leben«, sagte sie.
    Joel musste weinen, und Manny verpasste ihm eine ordentliche Kopfnuss.
    »Toll, du Stück Scheiße«, zischte er. »Das war mein Geburtstag, verdammt.«
    Danach spielten wir bei allem mit, was sie sich ausdachte: Wir lebten in einer Traumzeit. Manchmal stopfte uns Ma alle ins Auto und fuhr zum Einkaufen, in den Waschsalon, zur Bank. Wir standen hinter ihr und kicherten, wenn sie an den verschlossenen Türen zog oder an den schweren Sperrgittern rüttelte und fluchte.
    Jetzt schnappte sie nach Luft, hatte endlich die Tomaten- und Cremebatzen entdeckt, die uns die Gesichter hinuntertropften. Sie rief uns zu sich, fuhr sanft mit dem Finger über jede einzelne unserer Wangen und zog eine Furche durch Schmiere und Matsch. Und wieder schnappte sie nach Luft.
    »So habt ihr ausgesehen, als ihr bei mir rausgekommen seid«, flüsterte sie. »Genau so.«
    Wir stöhnten, doch sie sprach einfach weiter, darüber, wie verklebt wir gewesen waren, als wir auf die Welt kamen, darüber, dass Manny mit einem ganzen Schopf Haaren geboren worden war, was sie schockiert hatte. Als Erstes hatte sie bei jedem von uns Finger und Zehen gezählt. »Ich wollte sicher sein, dass nichts in mir dringeblieben ist«, sagte sie, was bei uns einen Anfall von Würggeräuschen auslöste.
    »Ich will auch.«
    »Was?«, fragten wir.
    »Geboren werden.«
    »Wir haben keine Tomaten mehr«, sagte Manny.
    »Nehmt Ketchup.«
    Wir gaben ihr meine Regenjacke, die war noch am saubersten, und wir warnten sie, auf gar keinen Fall die Augen aufzumachen, erst, wenn wir es sagten. Sie ging auf die Knie und legte das Kinn auf den Tisch. Joel hob den Hammer über den Kopf, und Manny richtete den Hals der Ketchupflasche auf den Punkt zwischen ihren Augen.
    »Auf drei«, sagten wir, und jeder nahm eine Zahl – ich war die Drei. Wir holten so tief Luft, wie wir nur konnten, sogen sie durch die Zähne ein. Wir hatten alle unsere Gesichter verzogen und die Hände zu Fäusten geballt. Wir sogen die Luft noch tiefer ein, bis sich unsere Brustkörbe weiteten. Das Zimmer fühlte sich an wie ein Ballon, wenn man pustet und pustet und er gleich platzen will.
    »Drei!«
    Dann zischte der Hammer durch die Luft. Mutter schrie auf, glitt zu Boden und blieb dort liegen, die Augen weit aufgerissen, Ketchup überall, so als hätte ihr jemand in den Hinterkopf geschossen.
    »Es ist eine Mom!«, schrien wir. »Herzlichen Glückwunsch!« Wir rannten
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