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Schattenhaus

Schattenhaus

Titel: Schattenhaus
Autoren: Alex Reichenbach
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Mitte Januar
    W inter war nicht da gewesen, als es passierte. Ein zweiwöchiger Urlaub, Sonne tanken auf Fuerteventura.
    Als er zurückkam, hingen an den Wänden seines Büros lauter Fotos: ein schäbiges Haus am Rand von Kalbach, wo es noch bäuerlich war, isoliert an einer Stichstraße am Ortsrand, die hier in einen Feldweg überging, umgeben von Schuppen und Wildwuchs. Nördlich weideten Pferde. Im Haus ein düsteres Schlafzimmer unterm Dach, braune Holzpaneelen, Blümchengardinen. In dieses Zimmer war in jener Nacht, zwei Tage nach Weihnachten, das Grauen eingebrochen. Die Frau, eine Mutter von Ende zwanzig, hatte noch Glück gehabt. Sie war im Schlaf erschossen worden. Mehrere Fotos zeigten ihren Kopf mit geschlossenen Augen auf dem Kissen. Die kurzgeschnittenen, naturblonden Haare, das kindlich wirkende Gesicht, im Tod gelb und wächsern wie das einer Puppe. Zwei Schüsse hatten ihren Schädel wie eine Eierschale zerplatzten lassen, die Hirnmasse quoll zwischen blutverkrusteten Haaren hervor, Spritzer und Fetzen von Hirngewebe klebten an der Wand dahinter. Fast schien es, als täte die Polizeikamera der Toten die meiste Gewalt an.
    Winter rekonstruierte aus den Bildern den Ablauf. Der Täter hatte sich wahrscheinlich ins Zimmer geschlichen und das Bett umrundet, bis er direkt neben dem Kissen der Frau stehen geblieben war. Aus nächster Nähe hatte er die Schlafende erschossen. Der daneben schlafende Mann – sein Bett war das der Tür nächstliegende – war von den Schüssen zweifellos aufgeschreckt. Barfuß und im Schlafanzug war er aus dem Bett gesprungen und hatte es zur Tür geschafft. Dort hatte er sich noch einmal umgewandt, womöglich, um mit dem Täter zu verhandeln. Und war frontal von drei Schüssen in den Bauch niedergestreckt worden. Vornüber war er zusammengebrochen und so liegen geblieben, bis er starb. Auch hier das Gesicht in Großaufnahme, diesmal mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen. Ein Schuss war danebengegangen, die Kamera zeigte das Loch im Türpfosten. Der oder die Täter hatten danach wahrscheinlich das Haus verlassen. Die Haustür war sperrangelweit offen abgebildet. Ein Foto des Küchenfensters im Erdgeschoss: Es stand ebenfalls offen. Möglicherweise waren die Täter hier eingedrungen.
    An der Tür klopfte es, Arno Zierings runder Kopf mit der Knollennase erschien. «Ich hab was gehört, und da hab ich mir gedacht, dass du das bist», sagte er mit einem Grinsen. «Kollege Kettler erscheint ja selten vor neun. Wie war der Urlaub?»
    «Bestens», sagte Winter, obwohl das übertrieben war. Seine Ehe kriselte. Der weihnachtliche Urlaub war ein Versuch gewesen zu kitten, was zu kitten war. Dafür war es tatsächlich ganz gut gelaufen. Aber solche Details wollte Ziering gar nicht wissen, der seine rundliche Gestalt auf einen Stuhl setzte und schon weiterredete.
    «Mensch, Andreas, gut, dass du wieder da bist. Wie du siehst, wartet Arbeit. Unangenehme Sache. Eine Familie Vogel aus Kalbach. Die Eltern wurden in der Nacht zum zweiten Weihnachtstag erschossen. Also vor zwei Wochen, genau am Tag, nachdem du fort bist. Und eigentlich haben wir noch keinen Schimmer, wer’s war. Oder auch nur, welchen Hintergrund das Ganze haben könnte.»
    «Wo ist die Akte?»
    Ziering deutete auf Kettlers Tisch, auf dem sich mehrere Ordner stapelten.
    Den Vormittag über klinkte Winter sich aus dem Alltagsgeschäft aus und machte sich mit dem weihnachtlichen Doppelmord bekannt. Er blieb auch zum Essen im Büro, um schneller durch die Akten zu kommen. Der Fall schien vertrackt: kein klares Motiv, kein Verdächtiger, dürftige Spurenlage. Außer Fasern, die sich überall in dem nicht besonders sauberen Haus gefunden hatten, gab es praktisch nichts. Wie zu erwarten keine Schmauchspuren an den Händen der Opfer, aber auch keine Fingerabdrücke Fremder im Haus. Winter sah bei diesem Spurenbild einen maskierten Täter mit Handschuhen vor sich.
    Die wichtigsten Zeugen waren die beiden kleinen Töchter des getöteten Paares. Vernehmung und Protokoll hatte Hilal Aksoy vom Kriminaldauerdienst gemacht, was Winters Konzentration leicht behinderte. An die Kollegin Aksoy hatte er in letzter Zeit eindeutig zu viel gedacht. Jedenfalls waren die Mädchen, drei und sechs Jahre alt, in der Nacht zum 26 . Dezember durch Schüsse wach geworden. «Es hat geknallt», waren die Worte der Älteren. Sie hatten die erhobene Stimme ihres Vaters gehört und wie dessen Worte nach einem neuerlichen Knall
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