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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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auf der Seite des Blattes, dort, wo der Himmel sein sollte, und noch mehr Striche, einer über dem anderen, bis die obere Hälfte schwarz war.
    »Das da sind die Heuschrecken«, erklärte er. »Ihr werdet schon sehen, früher oder später, ihr werdet schon sehen.«
    Das spielte sich alles auf der Veranda ab; er lud uns nicht in sein Haus ein, nur bis dahin durften wir, aber er schickte uns auch nicht weg. Es war später Nachmittag, die Sonne ging unter, es wurde Abend, die Spätsommerluft kühlte schnell ab, aber es wurde nicht kalt. Die Veranda war vergittert; die Fliegengitter waren an manchen Stellen mit Stoff vernäht, um die Löcher zu stopfen und die Moskitos fernzuhalten, aber die Moskitos fanden trotzdem einen Weg. Der alte Mann nannte sie Schnaken.
    Wir saßen um den Klapptisch herum und klatschten die Schnaken auf dem Tisch oder auf den nackten Oberschenkeln oder Unterarmen der anderen tot – wir machten uns ein Spiel daraus, schlugen einander und lachten, aber wenn eine Schnake auf dem alten Mann landete, schlugen und klatschten wir nicht zu, sondern wischten mit unseren Fingern über seine trockene Haut. Einmal stand ich auf und pustete dem alten Mann über den Nacken, wo eine Schnake gerade zustechen wollte, und der alte Mann zwinkerte und knuffte mir in die Rippen.
    »Die beste Medizin gegen einen Schnakenstich ist, ein Kreuz zu schneiden, so«, sagte er und drückte mir mit dem Daumennagel ein winziges Kreuz in den Arm. »So verteilt ihr das Gift und tötet den Juckreiz.«
    Der alte Mann war aus den Ozarks, einer Gegend in Missouri mit Erdlöchern und Höhlen und Blitzen, die aus dem Boden aufstiegen und in den Himmel schossen.
    Der alte Mann sagte, wir seien auf der Flucht. Er hatte alle möglichen Schimpfwörter für uns: Schiffbrüchige, blinde Passagiere, Flüchtlinge, Penner, Großstadttrottel, Mistkerle. Manny erzählte ihm, wir seien weggelaufen und wollten nie wieder zurück, und Joel sagte noch, unsere Mutter sei tot, man könne also niemanden anrufen. Der Mann war sehr alt, und er schien sich keine Gedanken zu machen, jemanden anzurufen oder was zu unternehmen. Er nannte uns auch Süße, Babys, Unschuldslämmer, arme, bedauernswerte Geschöpfe, Gottes Kinder. Er klebte die Wörter aneinander und sprach meist mit sich selbst, und die ganze Zeit schnitt er das Gemüse auf dem Tisch in immer kleinere Stücke; was er da machte: Er machte uns einen Salat.
    Dann stand er auf und ging ins Haus, um eine Schüssel und Teller und Gabeln zu holen. Er bewegte sich sehr langsam.
    »Der alte Mann ist in Ordnung«, sagte Manny.
    »Find ich auch«, sagte Joel.
    Joel entdeckte das Gelb eines Wiffleballschlägers zwischen ein paar Rechen und Besen und Schaufeln, die alle in einer Ecke standen.
    »Wozu braucht er den denn?«
    Er holte den Schläger und sah sich um, aber es gab keinen Ball. Er holte langsam zu einem Homerun aus, pustete die Wangen auf und atmete in dem Augenblick aus, als er sich den Ballkontakt vorstellte.
    »Und erzähl ja keine Lügen von wegen, Ma ist tot«, sagte Manny zu Joel. »S o ’n Scheiß ist nicht okay.«
    Es war schon so dunkel, dass das Licht auf der Veranda uns daran hinderte, auf den Hof hinauszusehen. Unsere Ma war noch immer am Boden zerstört, hatte noch immer tote Augen, aber sie war nicht tot. Sie war sogar wieder in die Brauerei gegangen. Da war sie jetzt, arbeiten. Und Paps war noch immer verschwunden. Manny meinte, er habe sich eine andere Frau aufgegabelt.
    Joel holte zum nächsten Homerun aus und ahmte dann die tobende Menge nach. Bald würden wir unsere Räder im Dunkeln nach Hause schieben müssen, die zerfurchte Schotterstrecke entlang, ohne Straßenbeleuchtung.
    »Hast du verstanden?«
    »Du glaubst, du weißt alles«, sagte Joel und hielt Manny die Spitze des Schlägers unter die Nase. Manny brauste auf und spannte sich an, und Joel grinste. »Scheiße weißt du.«
    »Und ob ich das weiß«, sagte Manny, doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, holte der Schläger aus und traf Manny seitlich am Kopf. Dann wälzten sie sich auf dem Boden und kämpften wie Berserker – »wie im Hundezwinger«, nannte Paps das, Beißen und Reißen und Schnodder und Blut.
    Ich schrie sie an, sie sollten aufhören, mehr tat ich nicht, schrie immer und immer wieder das eine Wort: » Stopp, stopp, stopp.« Ich dachte an Ma, die Paps dasselbe » Stopp, stopp, stopp« zuflüsterte. Manny zog den Rotz hoch und spuckte ihn Joel ins Gesicht, der Schleim glitt ab wie Eigelb.
    »Tiere«,
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