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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman
Autoren: Random House
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1. Kapitel
    Noch Worte suchen
    die etwas sagen
    wo man die Menschen sucht
    die nichts mehr sagen
    Und wirklich noch Worte finden
    die etwas sagen können
    wo man Menschen findet
    die nichts mehr sagen können?
    ERICH FRIED
    PAPA MACHT ENTDECKUNGEN. Zum Beispiel verbringt er nicht einen Tag, ohne fünf Minuten lang zu weinen oder drei mal zehn Minuten oder eine ganze Stunde. Das ist neu. Die Tränen versiegen, fließen, versiegen erneut, und es geht wieder von vorn los. Eine reiche Vielfalt an Schluchzern, aber kein Tag ohne. Das verleiht dem Leben eine andere Struktur. Es gibt die plötzlichen Tränen – eine Geste, ein Wort, ein Bild, und sie schießen hervor. Dann gibt es Tränen, die einfach bloß da sind, ohne erkennbaren Grund. Und es gibt völlig unbekannte Tränen, ohne Schluchzer, ohne das übliche verzerrte Gesicht, sogar ohne dass die Nase läuft, einfach nur kullernde Tränen.
    Ihm ist hauptsächlich morgens zum Weinen zumute.
    Am elften Tag nach meinem Tod brachte Papa meine Bettdecke in die Reinigung. Er läuft die Rue du Couédic entlang, die Arme voll Bettwäsche, in die er seine Nase steckt. Er meint, sie rieche nach mir. In Wahrheit stinkt sie, schließlich habe ich weder die Bezüge noch das Federbett jemals gewaschen. Tage, Wochen und Monate habe ich darin geschlafen. Das empört ihn nicht mehr. Im Gegenteil: Noch ist zwischen den weißen Falten etwas von mir vorhanden, das er zur Reinigung trägt wie das Allerheiligste. Papa weint, die Nase in der Baumwolle. Er vermeidet jeden Blickkontakt, geht Umwege, die nicht nötig wären, biegt nach rechts in die Rue Obscure, läuft erst in die eine Richtung, dann in die andere, Rue le Bihan, Rue Émile-Zola, Les Halles, statt hundert insgesamt vierhundert Meter, er kostet es aus. Papa nimmt noch eine letzte Nase aus dem Federbett und stößt endlich die Ladentür auf.
    Yuna de la Friche wirft gerade Münzen in einen Waschautomaten, Hinauszögern geht nicht mehr. Aufrichtiges Beileid … Der Mann von der Reinigung – noch einmal Beileid – nimmt Papa das Federbett ab. Papa hatte gehofft, es würde länger dauern, eine Warteschlange, ein Telefonat mit einem Kunden, eine Lieferung, ein Unwetter, bloß so viel Zeit, um noch ein paar Geruchsfetzen von mir einzuatmen. Papa gibt alles hin, verliert Stück für Stück.
    Zurück zu Hause, sieht er den Hund an meinen Pantoffeln herumkauen. Auch an ihnen haftet mein Geruch. Papa, du wirst dich aber bitte nicht mit Yanka streiten, wer an meinen Stinkelatschen herumnuckeln darf, ja?
    Bis wann wird der Hund meinen Geruch wiedererkennen? Zu überprüfen in drei Monaten zum Beispiel: Hundert Tage wären die Schonfrist für einen neuen Regierungschef. Und die Schonfrist für einen neuen Verstorbenen, die Zeit, in der alles an ihn erinnert, in der man in Tränen ausbricht, sobald der Name fällt, wie lang ist die? Hundert Tage, ein Jahr, drei Jahre? Wir werden das objektiv beurteilen können. Wie lang wird sich Yanka noch wegen meines Geruchs und wegen des Leders über meine Latschen hermachen? Wann werden Mama und Papa aufhören, überall ehrfurchtsvoll nach Spuren von mir zu suchen, und seien sie noch so klein? Wie lang werden sie sich nahezu unermüdlich ausgerechnet in das vertiefen, was sie zum Weinen bringt? Werde ich irgendwann nicht mehr jeden einzelnen Moment ihres Lebens ausnahmslos beherrschen? Ziemlich interessante Fragen. Papa, gib zu, dass du sie dir auch manchmal stellst, wenn du beim Weinen kurz Luft holst, als würdest du einen ungehörigen Blick in eine Zukunft werfen, die mein Tod ausgeblendet hat!
    In deiner neuen Welt herrscht Chaos. Papa, du erbst, allerdings nichts Erfreuliches. »Träum süß, mein Schatz, deine dich liebende Nanie. Gute Nacht, du Schneckchen.« Papa ist etwas peinlich berührt, als er in den Nachrichten in meinem Handy einen der Spitznamen entdeckt, die mir meine Freundin gegeben hat. Aber er kann nicht anders und wühlt weiter, wühlt in allem, was ich zurückgelassen habe. Dass sie sagt, dass sie mich liebt, damit hat er natürlich gerechnet. Dass er erraten muss, dass ich sie »meine Nanie« genannt habe, kein Problem. Es ist der Spitzname »Schneckchen«, der ihn peinlich berührt. Er wird genauere Informationen über Schnecken einholen müssen. Warum hat mich Marie »Schnecke« genannt? Weil ich an ihren Ohren, Lippen oder Brüsten herumgeknabbert habe? Bei Google steht, die Schnecke sei ein nachtaktives Tier. Ist es, weil ich immer erst zu nachtschlafender Zeit ins Bett
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