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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman
Autoren: Random House
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Ärzte, Jean-Jacques und Christine, seriös, wissenschaftlich und so weiter. Und wie Geschwister. Unter Tränen fragte er sie: »Kann man sich nicht unbewusst entscheiden zu sterben?« Jean-Jacques, der merkte, worauf Papa hinauswollte, widersprach lauthals, nein, diese Mikrobe hat zugeschlagen, ein für alle Mal, eine richtige Mörderin ist diese Mikrobe, eine Terroristin: Lion ist tot, der große Schnitt ist passiert, und weder Lion kann etwas dafür, noch du kannst etwas dafür. Mit seinem Tod ist unsere Ohnmacht erstarkt, das war’s.
    Christine, als Frau, ist feinfühliger, kann mit diesem Humbug mehr anfangen. Sie hatte Papas Zweifel herausgehört: Und wenn ich mich von dem Erreger habe töten lassen? Letzten Endes lebt dieser Erreger – Meningitis fulminans sein Name – ganz normal auch in zahlreichen gesunden Trägern. Warum so plötzlich, ausgerechnet da, in mir, zu dem Zeitpunkt, wieso hat er auf einmal einen günstigen Nährboden vorgefunden? Wer hat ihm erlaubt, wie wild zu wuchern und mein Leben zu vernichten? Das kann kein purer Zufall sein. Ist es nicht vielmehr so, dass sich mein Leben diesem Monster, der völligen Entsagung, dem Tod hingegeben hat?
    Papa druckst herum. An diesem Sonntag dachte Christine in seiner Anwesenheit laut über die geheimnisvolle Art so mancher buckeliger, alter Männer nach, von denen du dich freitags mit »Schönes Wochenende, bis Montag« verabschiedest und die dir seelenruhig antworten: »Aber nein, aber nein, Montag bin ich tot!« Und wenn du am Montag wiederkommst, ist der Alte tatsächlich tot, hat den Stecker gezogen. Hat sich abgemeldet. Scheinwerfer aus.
    In den letzten Jahren hatte Papa mehrfach versucht, mit den Spekulationen über die Endlichkeit, denen er sich schon immer gern hingegeben hat, aufzuhören. Am Tag nach meinem Tod schien er es endlich einzusehen. Ich bin mitten im Flug explodiert, aufgrund eines tödlichen Erregers, der mir in die Quere gekommen ist. Punkt aus. Seine alten Wahnvorstellungen taugten nichts mehr. Es gibt eben Dinge, die wir nicht in der Hand haben, den Tod, um es kurz zu machen. Und Papa zeigte Fortschritte in der Bekämpfung seines allmächtigen Wahns. Die Bombe fällt auf dich drauf, weil sie auf dich drauffällt, ohne einen anderen Grund, und das deshalb, weil wir Muße brauchen, um anderes auf uns zukommen zu sehen. Der Tod ist das, was wir absolut nicht unter Kontrolle haben.
    Beweise dafür glaubte er in meinen Unterlagen zu finden. Ich benutzte zum ersten Mal einen Taschenkalender. Für die kommenden Wochen hatte ich mir ein Konzert von Radiohead am 27. Oktober auf MCM notiert, außerdem eine Versammlung im Nationaltheater der Bretagne am 30., ein Livekonzert einer Rockgruppe in Châteaulin am 18. November und, ohne Angabe eines Datums, dass ich noch einen Schein im Unisekretariat abholen muss. Ich hatte noch einiges zu tun vor dem Sterben.
    Papa war kurz davor, einzusehen, über Jahre hinweg mit völlig haltlosen Theorien geliebäugelt zu haben.
    Doch an diesem einen Abend in seiner zweiten Woche als Waisenvater taucht aus dem Hinterhalt wieder sein alter Wahn auf. Selten war ich so weit im Voraus verplant gewesen. Prompt spürt er Wasser auf seine rasenden Mühlen fließen. Selten , höchst selten hatte ich so viele Optionen für die Zukunft. Dieses kleine Wörtchen, einmal im Kopf angelangt, besitzt die Macht, wieder ungeheuere, magische Hirngespinste aufflammen zu lassen. Totale Regression. Und wenn der Sohn völlig zu Recht diese Sammelallüren für Lebensprojekte angenommen hat, um gegen eine dunkle, tief verwurzelte Todessehnsucht anzukämpfen? Und wenn er gespürt hat, wie geheime Zweifel in ihn eingedrungen sind? Und wenn … Diese Psychologin, die ich aufsuchen wollte, dieser kleine Zettel in dem Riesendurcheinander auf meinem Schreibtisch in Rennes, sind sie nicht als ein Entschluss zu deuten, den ich versucht habe zu fassen, um die Todessehnsucht in mir zu stillen? Hatte ich vielleicht zu spät versucht, nicht in Versuchung zu geraten? Oder hatte ich womöglich gar nicht richtig gekämpft? Hatte ich die tödliche Entfaltung der Erregerbombe etwa zugelassen, damit ich nicht zu diesem Termin gehen musste, den zu vereinbaren mir nicht leichtgefallen war? Schon drehen Papas altbekannte Spleens wieder wild am Mühlrad.
    Als er selbst vor bald vierzig Jahren den ersten Termin für eine Psychoanalyse gemacht hatte, ist er kurz darauf gelb vor Angst geworden. Er wäre vor Angst beinahe gestorben, keine Frage. Aber
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