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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben
Autoren: Karl Rabeder
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Prolog
    E s war ein trüber Sommertag im Juli 2010, als ich den vorletzten Schritt aus meinem alten Leben tat. Ich stand vor einem Haus in der Provence, das ich dreieinhalb Jahre zuvor gekauft hatte, und genoss die fantastische Aussicht. Es liegt ziemlich weit oben an einem Hang, eine Autostunde nördlich von Marseille. Die Gegend dort ist so malerisch, dass man nichts anderes tun mag, als den ganzen Tag davorzusitzen und die Landschaft zu genießen. Oder darüber seine Kreise zu ziehen.
    Ich hatte mich in diesen Landstrich verliebt, als ich Ende der achtziger Jahre zum ersten Mal in meinem Segelflugzeug darübergeflogen war. In einer Zeitschrift hatte ich einen Artikel über einen Deutschen gelesen, der dort eine Segelflugschule betrieb. Schon der erste Kurs begeisterte mich so sehr, dass ich dort hängen blieb. Seitdem war es mein Traum, eines Tages hier zu leben.
    Die Ansässigen erzählen eine schöne Geschichte über sich und diese Gegend. Nachdem Gott die Provence erschaffen hatte, stellte er fest, dass ihm da etwas Perfektes
gelungen war, etwas, das nicht schöner hätte sein können. Doch dann bekam er einen großen Schrecken. Denn etwas so Vollendetes durfte es auf Erden nicht geben, schließlich gibt es nur einen vollkommenen Ort: das Paradies. Also dachte Gott darüber nach, was er der Provence antun konnte, um aus ihr einen irdischen Flecken zu machen. Und so schuf er die Südfranzosen. Eigenwillige, langsam arbeitende Menschen, die allem Fremden erst einmal mit ausgewiesener Reserviertheit und Arroganz begegnen. Somit hatte auch dieser Landstrich seinen notwendigen Makel.
    Der konnte mich allerdings nicht davon abhalten, dieses Haus zu kaufen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Erbaut worden war es im Jahr 1890 von einem Seidenraupenzüchter. Im Flachland war eine Krankheit ausgebrochen, an der allmählich alle Seidenraupen starben. Also stellte er sich ein Haus auf den Berg, 350 Quadratmeter groß, weit entfernt vom Rest der Welt, in der Umgebung nur ein Schafstall. Weil er der Einzige war, der noch Seide produzieren konnte, wurde er reich. Sein Haus thronte so majestätisch, mit so viel Würde auf seinem Plateau, dass es im wenige Kilometer entfernten Örtchen Cruis ehrfurchtsvoll »le Château« getauft wurde: »das Schloss«. So heißt es bis heute. Mit dem Kauf dieses Hauses war ich also zu einem Schlossherrn geworden.
    Die Intensität der Umgebung übte eine ungeheure Faszination auf mich aus. Nicht umsonst hat es in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Maler dorthin
gezogen. Ein Licht aus warmen Gelb- und Ockertönen, die sich auch in der Landschaft wiederfinden. Eine Luft, viel klarer als in Österreich, die eine Sicht eröffnet, dass man meinen könnte, man blicke bis in die Ewigkeit. Überall Lavendel- und Sonnenblumenfelder, Olivenhaine und schroffe Felsen, Wälder und Wiesen, bei deren Anblick sich in mir eine Ruhe ausbreitet, die ich an wenigen anderen Orten dieser Erde erfahren habe.
    Hier, genau hier, wollte ich leben. Als ich dieses Haus sah, wusste ich, dass ich den Platz gefunden hatte, an dem ich irgendwann meinen Lebensabend verbringen würde. Und als ich hinter das Haus trat, spürte ich es auch. Ich nahm eine so intensive, unerklärliche Energie wahr, dass ich mich sofort zu Hause fühlte. Ich würde morgens aufstehen, von der Terrasse aus mit einer Tasse Kaffee in der Hand die Aussicht in mich aufsaugen und danach in mein Segelflugzeug steigen. Rabeder, würde ich mir denken, Rabeder, du hast es geschafft – du führst ein perfektes Leben. Südfranzosen hin, Südfranzosen her! Wir würden ja weit genug entfernt von jeglicher Menschenansammlung leben.
    So hatte ich mir das ausgemalt, als ich im Winter 2007 den Kaufvertrag unterschrieb.
    In der ganzen Zeit, in der das Haus in meinem Besitz war, haben meine damalige Freundin und ich am Ende aber nur etwa dreißig Tage darin verbracht. Bis zum Schluss gab es keine Möbel, keinen Komfort, nichts. Wir schliefen auf zwei Matratzen, Licht spendeten ein paar Kerzen, die wir in leere Weinflaschen steckten.
Die Zeit tagsüber verbrachten wir auf der Terrasse, unter den Akazienbäumen oder im Segelflugzeug. Zu Hause in Österreich haben wir jahrelang den Umbau dieses Prunkstücks geplant, das man auf 600 Quadratmeter hätte ausbauen können. Ich bin in einem kleinen Häuschen in Linz groß geworden, auf 35 Quadratmetern, die ich mir mit meiner Mutter geteilt habe. Als meine Freundin und ich uns überlegten, wie »das Schloss« am Ende
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