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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben
Autoren: Karl Rabeder
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aussehen sollte, konnte es uns nicht groß genug sein.
    Mit einer befreundeten Architektin aus Wien haben wir die Renovierung genau geplant: ganz reduziert, große Räume, viel Glas, keine Schnörkeleien. Ein elektrisches Klavier, das von selbst spielte, sollte den riesigen Innenraum mit wunderbarer Musik erfüllen – so lange, bis mein eigenes Geklimper erträglich werden würde. Nebenan wollten wir einen kleinen Start- und Landeplatz für unsere Segelflugzeuge errichten, damit wir von unserem Wohnhaus in Tirol bis direkt vor den Eingang des »Châteaus« hätten fliegen können. Es wäre im wahrsten Sinne des Wortes ein Leben wie im Himmel gewesen.
    Doch daraus ist nichts geworden. Irgendwann wurde mir klar, dass dieses Haus für ein Leben stand, das ich nicht mehr führen wollte. Eines, das mich eher belastete als beflügelte. Von diesem Augenblick an wollte ich es nur noch loswerden. Es war meine Stein gewordene Vergangenheit.
    So stand ich an diesem Vormittag dreieinhalb Jahre nach dem Kauf vor dem Traumhaus, das es für mich
nun nicht mehr war. Es blieben noch zwei Stunden Zeit, bis die neuen Besitzer kamen. Der Himmel war wolkenverhangen, mit Regentropfen in den Augen nahm ich Abschied, von dem Haus ebenso wie von meinem alten Leben. Ganz in Ruhe, nur für mich allein.
    Irgendwann trieb ein Schäfer seine Herde über die Wiese direkt vor dem Haus. Ein Mann wie aus dem Schäfer-Lehrbuch: riesiger dunkelbrauner Hut, regendichter Mantel. Nur der rote Klappschirm wollte so gar nicht dazu passen und gab ihm seine ganz persönliche skurrile Note. In den Jahren davor waren wir uns nur selten begegnet. Weil wir kaum da waren, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Schafe zum Grasen auf die Wiese zu schicken, die zu unserem »Château« gehörte. Einmal hatte ich ihn sogar dabei erwischt und ihn zur Rede gestellt. Er rechtfertigte sich damit, dass es doch geregnet und er sich nur habe unterstellen wollen. »Ja mei«, dachte ich mir nur, »ist halt ein schlauer Bursche! Seinen Schafen schmeckt das frische Gras auf meinem Grund sicher besser als das halb vertrocknete im Wald. Das ist schon okay.«
    An diesem Vormittag aber dachte ich über etwas ganz anderes nach. Es kam mir vor, als wollte mir noch einmal jemand vor Augen führen, warum ich mich getäuscht hatte, als ich dachte, in diesem Haus an meinem Ziel angekommen zu sein. Der Schäfer, die Hunde, die Herde: Für mich war das, was da an mir vorübermarschierte, ein Symbol dafür, wie alle Gesellschaften in der westlichen Welt heute funktionieren. Einer bestimmt, in welche Richtung sich die Masse bewegen 1
soll: der Schäfer. Einige wenige sind abgerichtet und führen seine Befehle aus: die Hunde. Und dazwischen gibt es eine Masse, die sich nicht so bewegt, wie es ihrer Natur entspricht, sondern so, wie es ihre Herrscher wollen – das sind die Schafe.
    Es gibt so viele Schafherden, so viele Hunde, so viele Schäfer – und es ist immer dasselbe System, nach dem alles funktioniert. Die Schafe glauben vielleicht, dass sie einen freien Willen haben, weil sie ein Bein vor das andere setzen. Doch in Wirklichkeit führen sie ein Leben in kompletter Unfreiheit. So gesehen bin auch ich die meiste Zeit meines Lebens ein Schaf gewesen, das sich getäuscht hat. Und was für eines!
    Seit ich denken kann, ging es in meinem Leben darum zu arbeiten: etwas zu leisten, etwas zu tun zu haben. Das Haus, in dem ich gemeinsam mit meiner Mutter lebte, gehörte meinen Großeltern, und es war vor allem meine Oma, die mir beibrachte, dass man jede Minute mit etwas Sinnvollem füllen muss, wobei »sinnvoll« nach ihrer Definition nur etwas war, was unmittelbar mit Geldverdienen zu tun hatte.
    Mein Großvater war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er war ein lebenslustiger Mann, der in seiner Jugend mit seinen Schwestern viel gesungen hat. Kurz bevor er starb, sagte er zu mir: »Weißt du, Karl, manchmal hätte ich mich einfach gern in die Sonne gesetzt und den Tag Tag sein lassen.« Doch das wusste seine Frau zu verhindern, sie beharrte stets darauf, dass es noch dies und jenes zu tun gebe. Das ist das Schicksal vieler Menschen: immer das Gefühl zu haben,
etwas tun zu müssen. Wenn ich alle To-do-Listen, die ich in meinem Leben angefertigt habe, aneinanderhängen würde, könnte ich damit vermutlich die Erde mit dem Mond verbinden. Dann wüsste das ganze Weltall, womit ich in den vergangenen Jahrzehnten meinen Kopf überladen habe: »Vertriebsleiter Konsum anrufen. Entwürfe für
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