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0062 - Der tödliche Zauber

0062 - Der tödliche Zauber

Titel: 0062 - Der tödliche Zauber
Autoren: Michael Kubiak
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Dabei fiel ihm auch ein, was sich verändert hatte und ihn vielleicht geweckt haben konnte. Die Balkontür stand weit offen, und der Vorhang bauschte sich im lauen Wind. Gert Rall schaute sich um und stellte fest, daß das Mädchen verschwunden war. Das Kopfkissen neben ihm sah aus, als hätte nie jemand darauf gelegen. Das gleiche galt für die Bettdecke.
    Verwirrt hob Gert Rall die Hand und wollte sich die Haare aus der Stirn streichen, als er mitten in der Bewegung verharrte. Ein Gurgeln entrang sich seiner Kehle. Als stünde er dem Horrorwesen aus einem Alptraum gegenüber, so starrte er mit geweiteten Augen auf seine Hand. Die Haut war welk, verbraucht, die Finger wie von Gicht gekrümmt, und braune Altersflecken bildeten zum Blau der Adern unter der Haut einen makaberen Kontrast. Es war die Hand eines Greises – und Gert Rall war erst zweiunddreißig Jahre alt.
    Der auf so schreckliche Weise Verwandelte rollte sich in fieberhafter Hast aus dem Bett und stürzte hinüber zur Balkontür. Ein völlig irrwitziger Gedanke war ihm durch den Kopf gezuckt. Sollte das Mädchen etwa…? Auf dem Weg zum Balkon kam er an einem antik wirkenden Schmuckspiegel vorbei. Unabsichtlich wandte er den Kopf – und schrie entsetzt auf. Er schaute direkt in das Gesicht eines uralten und ihm fremden Mannes!
    Die Augen unter den ergrauten, buschigen Augenbrauen waren stumpf und leblos, die Haut voller Runzeln und Falten. Der Mund stand halb offen, Speichel tropfte auf das Kinn. Die Haare waren eisgrau und standen wirr und zerzaust vom Kopf ab.
    Gert Rall taumelte auf den Spiegel zu. Seine Schritte waren unsicher, schwankend, so als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Seine Hände krallten sich um die Kante des Schränkchens, das unter dem Spiegel stand. Verzweifelt suchte er in dem Gesicht nach Bekanntem. Doch seine Anstrengungen waren vergeblich. Es war und blieb das Gesicht eines Fremden, den er nie gesehen hatte.
    In einer plötzlichen Aufwallung löste Gert Rall seine Hände von dem Schränkchen und schlug sie vors Gesicht. Seine Finger berührten die Haut und zuckten zurück, als wären sie verbrannt. Mit fahrigen Bewegungen begann Gert Rall sein Gesicht abzutasten, so wie ein Blinder versucht, einen ihm unbekannten Gegenstand zu begreifen. Immer wilder und unkontrollierter wurden seine Bewegungen und Gesten. Dabei murmelte er unaufhörlich vor sich hin, als hätte er einen unsichtbaren Gesprächspartner.
    Seine Stimme wurde immer lauter, durchdringender. Schließlich war es ein Kreischen, das stoßweise aus seinem Mund drang, das aber sehr schnell schwächer wurde und endlich ganz verstummte.
    Gert Rall sackte zu Boden, wobei er das Bettlaken mit sich riß. Der Deutsche drehte sich noch einmal um seine eigene Achse und kam dann halb eingewickelt in das Bettlaken zur Ruhe. Seine Hände lösten sich von seinem Gesicht und sanken auf das weiße Leinen. Wo sie es berührten, färbte sich das Gewebe rot – blutrot.
    Gert Rall hatte sich in seiner Verzweiflung schreckliche Wunden zugefügt. Sein Gesicht war eine einzige blutende Wunde, die von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne mit brutaler Deutlichkeit aus dem Halbdämmer, der in dem Zimmer herrschte, gerissen wurde…
    ***
    Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Treppe, als Lucille Parnod den verzweifelten Schrei hörte. Sie gehörte zu dem Heer der Küchenhilfen des Hotels und befand sich gerade auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, um mit der Zubereitung des Frühstücks für die zahlreichen Gäste des Hauses zu beginnen.
    Wie erstarrt stand sie da, als hätte sie Angst, sich zu bewegen. Der Schrei – und sie war sicher, ihn deutlich gehört zu haben – enthielt soviel Verzweiflung, Not und Angst, daß ein unwiderstehlicher Drang in ihr aufstieg, dem Hilflosen, wer auch immer er war, zu helfen.
    Langsam, mit zögernden Schritten, setzte sie sich in Bewegung und suchte nach einem Hinweis, aus welchem Raum der Schrei gedrungen sein könnte. Das Schicksal wies ihr den richtigen Weg.
    Vom Instinkt getrieben, blieb sie vor der betreffenden Tür stehen.
    Sie zögerte noch, die Klinke herunterzudrücken. Als sie spät in der Nacht in das Hotel zurückgekommen war, hatte sie miterleben können, daß der Bewohner des Zimmers, ein jüngerer Mann, nicht allein gewesen war. Ein bildhübsches Mädchen hatte ihn begleitet. Lucille war sicher, in ihr eine Zigeunerin erkannt zu haben.
    Sie hatte sich noch gewundert, denn es war ungewöhnlich, daß Zigeunerinnen, von denen es um
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