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Frösche, die quaken, töten nicht: Roman (German Edition)

Frösche, die quaken, töten nicht: Roman (German Edition)

Titel: Frösche, die quaken, töten nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Vera Sieben
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1
     
    Aus Livs Perspektive sah dieser
weißhaarige Mann, dessen wulstiger Oberkörper sich über den Tisch neigte, bereits
ziemlich leblos aus. Sein Gesicht war im tiefen Müsliteller versunken.
    ›Das ist
absurd‹, dachte sie. ›Kann das wahr sein? In meinem heiß ersehnten und lang erarbeiteten
Urlaub frühstücke ich in einem Wellness-Hotel und fünf Tische weiter macht ein alter,
dicker Mann solch einen Aufruhr.‹
    Liv wusste,
wie Leichen aussahen. Was sie bisher gesehen hatte, war aber anders. Am Tatort selbst,
wenn Liv das Glück hatte, hinzugerufen zu werden, war sie vorbereitet auf das, was
kam. Ebenso, wenn sie den Pathologen einen Besuch abstattete: Nackt auf dem Seziertisch
ähnelten sich die Leichen in gewisser Weise. In keinem Fall hatte es sie so unerwartet
getroffen wie hier. Sie hatte noch zehn Minuten vorher gesehen, wie dieser Mann
recht lebendig durch den Frühstücksraum gegangen war.
    Da nämlich
beobachtete sie, dass sich an dem besagten Tisch in der Ecke des Raumes ein dicker,
in den Gliedern und Gelenken steif wirkender Mann mit grimmig heruntergezogenen
Mundwinkeln niederließ. Laut – trotz seiner ungewöhnlich hohen Stimme – bestellte
er nicht, nein, er befahl, dass ihm ein Müsli an den Tisch gebracht werden sollte.
Der Kellner ging daraufhin geduckten Hauptes und besonders schnell, um seine Pflicht
zu tun. Er holte einen tiefen, weißen Suppenteller, gefüllt mit Haferbrei aus der
Müsli-Ecke des farbenprächtig angerichteten Frühstücksbuffets.
    Den Todeskampf
hatte anscheinend niemand bemerkt, er ging ungewöhnlich schnell und lautlos vonstatten.
Nun hing er da, der Oberkörper.
    Nur an einem
Tisch saß ein sich anschweigendes Paar mittleren Alters. ›War es noch zu früh oder
waren sie zu lange zusammen, dass ihnen die Themen ausgingen‹, dachte Liv. Je mehr
Menschen den Frühstücksraum betraten, umso geschäftiger wurde das Treiben zwischen
Büfett und Sitzplätzen. Die Tische wurden zunehmend besetzt von einzelnen Personen
in dunkler Business-Kleidung. Damit hob sich Liv in ihren Lieblings-Stretchjeans
und einem blauen langärmeligen T-Shirt auch optisch von den Gästen ab. Männer wie
Frauen, alle wahrten eine bestimmte Distanz zum nächsten Platz. Sie einte der konzentrierte
Gedanke an das Kommende, den sie wie einen Schutzschild gegen äußere Einflüsse verwandten.
Die meisten von ihnen schenkten dem stummen Leib nach und nach zumindest aus ihren
Augenwinkeln heraus Beachtung. Sie fühlten sich gestört, weil ihnen eine solche
Situation zum Frühstück serviert wurde, für das sie in diesem Düsseldorfer First-Class-Hotel nicht gerade
wenig bezahlen mussten. Genervt und angeekelt, schoben sie anderen die Verantwortung
zum Handeln zu und sich selbst schnell den Rest der Teller- und Tasseninhalte in
ihre Münder.
    Die Zeit
war überfällig, dass sich jemand um den Mann kümmerte. Vielleicht war ja doch noch
etwas zu retten. Bei dem Gedanken, dem alten, fetten Mann das Müsli aus dem Gesicht
zu wischen und zu versuchen, ihn durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben, drohte
Livs verspeistes Genießerfrühstück den Rückwärtsgang an.
    ›Es muss
wohl sein‹, dachte sie, holte tief Luft, stand auf und schaute sich um. Waren von
ihrer Entdeckung bis jetzt auch erst Sekunden vergangen, schritt in Livs Bewusstsein
die Zeit im Zeitlupentempo voran. Kein Gespräch war zu hören, nur die Hintergrundmusik.
Die Gäste starrten beschäftigt in ihre Morgenzeitung und aßen im Eiltempo.
    Nur die
Frau im weißen Trainingsanzug, die gestern mit Liv angereist war, schaute wie gebannt
aus dem Fenster auf den kleinen Teich, wo sich ein Entenpaar in aller Ruhe seiner
Morgentoilette widmete. Keine Frage, niemand wollte mit diesem Geschehen an Tisch
7 zu tun haben.
    Livs Ansatz
zum Endspurt wurde durch das Eintreffen des Kellners ausgebremst, dessen Gesicht
sich verzweifelt zu einer Grimasse verzog, als er den stummen Mann in dieser Lage
entdeckte. Zögernd ging er zu dem Leblosen hin und zog an dem weinroten Pullunder.
Ohne Wirkung. Der Leib rührte sich nicht. Ratlos rief er in den Raum: »Ein Arzt,
bitte, wo ist ein Arzt?«
    Das Crescendo
der klassischen Hintergrundmusik verstärkte die Dramatik. Unter gehöriger Kraftanstrengung
hievte der Kellner nun den Körper in die aufrechte Position, welche die Umrisse
eines runden Gesichtes mit dicken Wangen sichtbar machte. Der zähflüssige Müslibrei
bedeckte die halb offenen Augen und klebte in den Falten des Doppelkinns. Von der
Nase
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