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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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jüngerer Kollege sah nicht nur besser aus, sondern war auch eindeutig cleverer. Blitzschnell schwenkte er zur Seite und stürmte durch den Eingang herein. Immerhin reagierte die Automatik träge genug, um ihn eine gute Sekunde lang aufzuhalten, und mehr Zeit brauchte sie nicht.
    Der Laden war genau so überfüllt, wie die Straße draußen gerade noch leer gewesen war: ein halbes Dutzend Kassen, an denen sich ausnahmslos lange Schlangen gebildet hatten. Noch perfekter. Ohne langsamer zu werden, spurtete sie auf die nächste Kasse zu, sprang mit einem Satz auf das Fließband, surfte mit ausgebreiteten Armen über das Scannerfeld und hinterließ nicht nur eine Bugwelle aus umherfliegenden Cornflakes-Packungen, Toilettenrollen und Tampons, sondern auch einen Chor empörter Schreie und wütender Rufe. Am Ende des Laufbandes setzte sie mit einem perfekten Salto über ein halbes Dutzend Köpfe und mindestens ebenso viele Kopftücher hinweg und kam am Ende der Schlange wieder auf dem Boden auf. Aus dem Fach unter der Kasse schnappte sie sich eine Handvoll Plastiktüten. Eine davon stopfte sie sich hastig unter die Jacke, die anderen verteilte sie großzügig auf dem Boden hinter sich, während sie bereits im Zickzack weiterstürmte und mit dem freien Arm wahllos Lebensmittelpackungen, Shampooflaschen, Tütensuppen, Kinderspielzeug und Hygieneartikel
aus den Regalen fegte, um jedwedem Verfolger das Leben möglichst schwer zu machen. Sie sah über die Schulter zurück und wurde mit einem Anblick belohnt, der sie im gleichen Maße mit Schadenfreude erfüllte, wie er sie erschreckte.
    Der für die Schadenfreude zuständige Teil amüsierte sich am Anblick des Schmerbauchs, der wie eine lebende Kanonenkugel in eine der Schlangen an den Kassen hineingeknallt und prompt darin stecken geblieben war.
    Sein jüngerer Kollege erwies sich tatsächlich als cleverer, oder doch zumindest lernfähig, denn er ahmte Lenas kleinen Stunt von gerade mit beunruhigendem Geschick nach; vielleicht nicht ganz so elegant und ohne den Salto als krönenden Abschluss, aber dennoch schnell genug, um sie zu dem Schluss kommen zu lassen, dass der Anblick seines netten Gesichts und seiner fast katzenhaften Bewegungen es doch nicht wert waren, geschnappt zu werden.
    Sie stürmte weiter, verteilte großzügig noch mehr Pampers-Kartons, Plastikflaschen mit Apfelsaftschorle und Aldi-Tüten hinter sich und wurde mit dem zufriedenstellenden Anblick des Blondschopfs belohnt, der zwar rasend schnell zu ihr aufholte, dann aber urplötzlich den Boden unter den Füßen verlor und auf den Rücken knallte. Es ging doch nichts über Plastiktüten auf poliertem Granitboden. Schmierseife war nichts dagegen.
    »Polizei!«, brüllte der Glatzkopf hinter ihr. »Verdammt, haltet den Jungen auf!«
    In einer Gegend wie dieser war das vielleicht kein besonders cleverer Spruch, einmal ganz davon abgesehen, dass Lena weder ein Junge war, noch sich aufhalten zu lassen gedachte. Mehr schlitternd als laufend, erreichte sie das Ende des Gangs, schwang sich herum, indem sie sich mit der linken Hand an einem Regal festhielt, das zwar bedrohlich schwankte, zu ihrer Enttäuschung aber nicht umfiel. Dieses Mal hörte sie auf ihren
Instinkt, der sie auf einmal vor einer Gefahr auf der anderen Seite warnte.
    Statt also blindlings um die Ecke zu stürmen, ließ sie sich fallen, schlitterte mit den Füßen voran über den glatten Boden und fegte so eine Gestalt in einem weißen Kittel aus dem Weg, die sofort zu Boden ging. Lena sprang auf die Beine und entdeckte endlich, worauf ihr ganzer verzweifelter Fluchtplan überhaupt gründete: eine breite Doppeltür aus halb durchsichtigem Plastik, über dem ein roter Schriftzug NUR FÜR ANGESTELLTE verkündete. Lena spurtete darauf zu, sah währenddessen ein rotes Aufblitzen auf einem der Wühltische und schlug einen blitzschnellen Haken, um etwas an sich zu reißen und unter ihre Jacke zu stopfen, von dem sie nur hoffte, dass es das war, wonach es aussah.
    Das wütende Gebrüll hinter Lena mobilisierte noch einmal all ihre Kräfte, um schneller zu laufen. Mit gesenktem Kopf stürmte sie durch die Schwingtür vor sich und ahnte die Gefahr eindeutig mehr, als dass sie sie sah. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie über einen fast meterhohen Stapel aus Milchkartons hinweg, der so dicht hinter der Tür stand, dass es schon fast an eine Falle grenzte. Sie hoffte, dass ihr Verfolger vielleicht nicht ganz so schnell reagierte wie sie, schlug einen Haken nach
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