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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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annähernd so dezenten Kleidern, ein junges Mädchen, das gerade nicht mehr als Kind durchging und neben einem grauhaarigen Geschäftsmann saß, der gut ihr Großvater sein konnte, sehr viel wahrscheinlicher aber ihr Sugardaddy war, und eine schwarzhaarige Schönheit in einer dunkelblauen Stewardessenuniform. Keiner von ihnen rührte sich, obwohl sich die Gulfstream jetzt immer heftiger zu schütteln begann, so als wäre aus der sanften Bodenwelle jetzt eine von Schlaglöchern verheerte Kopfsteinpflasterstraße geworden. Der Gestank nach Tod und warmem Blut lag in der Luft, so durchdringend, dass selbst die Klimaanlage davor kapituliert hatte, und hier und da tropfte es rot auf den dicken Velours des Bodens, wo die Sitze sich zu sehr mit Blut vollgesaugt hatten, um noch mehr davon aufnehmen zu können.

    Was für eine Verschwendung.
    »Es wird Zeit«, sagte die blonde Frau.
    Die Passagierin auf dem hintersten Sitz war nicht tot. Sie saß nur reglos da und las ein Buch, und das tat sie auch noch weitere zwanzig oder dreißig Sekunden. »Noch zwei Seiten«, sagte sie dann. »Ich will wissen, wie es ausgeht.«
    »Keine Chance«, antwortete die blonde Frau.
    Noch einmal vergingen vielleicht zehn Sekunden, dann erklang ein leises, enttäuschtes Seufzen, und das Buch wurde gesenkt. Es war ein sehr edles, sehr altes Buch - offensichtlich ein Original -, und das Gesicht dahinter war ebenso schön wie das der Blonden, wenn auch vielleicht eine Spur jünger. Darüber hinaus verband sie nichts. Während die blonde Frau einen eleganten Mantel und darunter ein teures Sommerkleid und farblich darauf abgestimmte Schuhe trug, war sie zwar ebenfalls elegant gekleidet, aber ganz und gar nicht passend für diese Umgebung, sondern im Stil der frühen Zwanziger: Hut, Kleid und Handschuhe aus schwarzer Gaze. Als hätte sie ihre Kleidung auf das Buch abgestimmt, das sie nun nicht mehr zu Ende lesen konnte.
    Sie wirkte sehr enttäuscht, aber sie kam nicht mehr dazu, erneut zu widersprechen, denn in diesem Moment wurde der Vorhang, der den Passagierraum von der winzigen Küche und der Toilette trennte, beiseitegeschlagen. Eine dritte Frau kam herein, schwer mit Tüten und Einkaufstaschen beladen, auf denen die Namen der alleredelsten Edelboutiquen und Geschäfte prangten. Sie war jünger als die beiden anderen und wiederum völlig anders gekleidet, angefangen von ihrer strubbeligen Unfrisur bis hin zu den verschiedenfarbigen Schuhen. Durchgeknallt wäre wohl noch die am ehesten zutreffende Bezeichnung gewesen.
    Sie musste die Worte gehört haben, jedenfalls hob sie demonstrativ die Einkaufstaschen und machte ein noch demonstrativer
enttäuschtes Gesicht, aber die Antwort bestand lediglich aus einem stummen Kopfschütteln.
    »Aber wozu sind wir dann denn extra nach Paris gejettet, um einzukaufen?«, beschwerte sie sich.
    Diesmal bekam sie immerhin eine Antwort, wenn auch wahrscheinlich nicht die, auf die sie gehofft hatte. »Du hättest den Piloten nicht umbringen sollen. Das war dumm.«
    »Ich hatte Hunger!«
    »Ja, und jetzt bekommst du sogar noch die Gelegenheit, deinen Durst zu stillen«, sagte die blonde Frau unwillig und machte eine noch unwilligere Geste in Richtung Kabinentür. Sie wollte losgehen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und legte lauschend und mit halb geschlossenen Augen den Kopf auf die Seite.
    Wortlos drehte sie sich herum, schlug den Vorhang mit einem Ruck endgültig zur Seite und trat an die Toilettentür heran. Sie war verschlossen und sah aus, wie aus massivem edlem Holz gemacht, bestand in Wirklichkeit aber aus einem leichten Verbundmaterial, das für sie nicht mehr als Papier bedeutete.
    Die Zeit wurde allmählich knapp, aber sie verwendete trotzdem eine geschlagene Sekunde darauf, das Gesicht gegen das Holzimitat zu pressen und den verlockenden Duft einzuatmen, den sie dahinter wahrnahm, den so unendlich süßen Geruch der Furcht. Sie öffnete die Tür, indem sie das Schloss herausbrach, und ließ sich dann in die Hocke sinken, damit sich ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem der Stewardess befand, die zitternd in einem Winkel der winzigen Toilette hockte und sie aus Augen anstarrte, die schwarz vor Angst waren.
    »Schschsch«, machte sie beruhigend. »Du musst keine Angst haben, Kleines. Es ist alles in Ordnung.«
    Die Stewardess begann leise zu wimmern und versuchte noch weiter von ihr wegzukriechen. Die blonde Frau streckte die Hand aus, streichelte der Stewardess vorsichtig mit den
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