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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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in Toms Schulter zu verbinden, doch der Stoff saugte sich fast schneller mit dem furchtbaren nassen Rot voll, als der improvisierte Verband es aufnehmen konnte.
    »Er lebt noch!«, keuchte Lummer noch einmal. »Das ist unglaublich!«
    Vielleicht war es auch einfach nur grausam, dachte Lena bitter. Sie hätte nicht sagen können, wen das Schicksal damit mehr quälen wollte. Sie rührte sich nicht.
    »Wollen Sie sich nicht … nicht von ihm verabschieden?«, fragte Lummer stockend. Seine Stimme zitterte, und sie sah ihm an, dass er mit den Tränen kämpfte.
    Wozu sollte das gut sein?, dachte sie. Ihren Schmerz zu mehren oder seinen, sollte er sie im allerletzten Moment doch noch erkennen?
    Trotzdem machte sie einen halben Schritt vom Fenster weg und fragte dann: »Können Sie ihn …« Ihre Stimme versagte ihr
den Dienst, aber Lummer schien sie trotzdem verstanden zu haben.
    So vorsichtig, wie er nur konnte, zog er Tom zur Seite, bis sich dessen Oberkörper nicht mehr im Sonnenlicht befand. Lena ging in respektvollem Abstand um das leuchtende Dreieck herum und kniete neben ihm nieder. Ihr Herz schlug so hart, als wollte es in ihrer Brust zerreißen, und ihre Verzweiflung war mittlerweile die reinste körperliche Qual. Sie hatte gesiegt. Sie lebte, aber wozu, wo sie doch alles, was ihr etwas bedeutete, verloren hatte, wo der einzige Mensch, den sie jemals geliebt hatte, ihr unter den Händen starb?
    Im Stillen bekräftigte sie ihren Entschluss. Sie würde das Einzige tun, was überhaupt noch einen Sinn ergab, und Charlotte auf ihrem Weg zur Sonne folgen, aber diese wenigen letzten Augenblicke war sie Tom schuldig.
    »Es tut mir unendlich leid«, sagte Lummer. »Er war ein guter Junge. Manchmal ein bisschen ungestüm, aber trotzdem ein guter Junge.« Er lachte leise, aber es klang eher wie ein Schluchzen. »Wissen Sie, dass er heute Geburtstag hat?«
    »Ja«, flüsterte Lena. Dann hob sie mit einem Ruck den Kopf und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. »Geburtstag?«
    »Gestern, um genau zu sein«, antwortete Lummer, »aber er wollte ihn heute feiern - sobald wir Sie hier herausgeholt hätten. Er war felsenfest davon überzeugt, dass wir es schaffen.«
    »Wie alt … ist er geworden?«, fragte sie stockend. Plötzlich glaubte sie noch einmal Louises Gesicht vor sich zu sehen und die Mischung aus Überraschung und ungläubigem Staunen, die sie in deren Augen gelesen, aber nicht verstanden hatte.
    »Wie alt?« Lummer blinzelte. »Fünfundzwanzig … glaube ich. Warum?«
    Statt seine Frage zu beantworten, sah Lena wieder auf Toms bleiches Gesicht hinab, streckte zögernd den Arm aus und legte die flache Hand auf seine Stirn.

    Und da war es: etwas Unsichtbares und Warmes, das tief in ihm war und im Takt ihres eigenen Herzens schlug, etwas ungemein Vertrautes und Verlockendes, dessen Ruf sie sich jetzt nicht mehr entziehen konnte und wollte. Sie hatte es im allerersten Moment in ihm gespürt, aber sie verzieh sich selbst, es so falsch gedeutet zu haben, wie es nur ging. Woher hätte sie wissen sollen, dass er keine Beute war, sondern etwas ungleich Kostbareres?
    Lummer wandte diskret den Blick ab, als sie sich über ihn beugte, und zog dann erschrocken die Luft ein, als sie nicht etwa dazu ansetzte, ihn zum Abschied zu küssen, sondern ihm die Zähne tief in die Halsschlagader grub.
    Es war genau wie damals, als Louise sie verwandelt hatte, nur tausendmal schlimmer: Ein einzelner, gleißender Blitz durchfuhr sie, setzte jeden einzelnen Nerv in ihrem Körper in Brand und schleuderte sie quer durch den Raum gegen die Wand. Flammen erfüllten sie, und sie schrie, obwohl es vollkommen anders war, als sie erwartet hätte, denn es war kein Schmerz, der jede einzelne Faser ihres Körpers heiß wie geschmolzenen Stahl auflodern ließ, sondern im Gegenteil eine so reine, unverfälschte Lust, dass sie schon an Agonie grenzte.
    Irgendwann hörte es auf, und sie kehrte in einem Strudel aus langsam verebbenden Emotionen in die Wirklichkeit zurück und fand sich wimmernd auf der Seite liegend auf dem Boden wieder. Lummer hatte sich auf ein Knie erhoben und war dann mitten in der Bewegung erstarrt, und sie las nichts als völlige Fassungslosigkeit in seinen Augen, während er immer wieder sie und Tom und dann wieder sie und dann wieder ihn anblickte. Er schien etwas sagen zu wollen, brachte aber keinen Ton heraus.
    Und Tom … lag nicht mehr im Sterben.
    Er war auf die Seite gerollt und über und über mit seinem eigenen Blut besudelt,
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